Im Bereich «Cradle to Cradle» ist der Bedarf an Innovation sehr gross. Der heutige Baustandard ist noch immer stark von «Kleben, Schäumen, Beschichten» geprägt, sagt Ivo Anghern, Manager Nachhaltigkeit und Digitalisierung bei der Drees & Sommer Schweiz AG. Wichtig sei es zu verstehen, dass die grössten Hebel zur Reduktion des CO2-Ausstosses von Gebäuden in den frühen strategischen und konzeptionellen Planungsphasen entschieden werden.

Volle Deponien, ambitionierte Klimaziele: Bis 2050 möchte die Europäische Union die umfassende Kreislaufwirtschaft einführen, das Konzept «Abfall» soll überwunden werden. Woher kommen die CO2-Emissionen in der Baubranche?

Ivo Anghern: Die CO2-Emissionen stammen einerseits aus dem Betrieb der Gebäude. Der Anteil fossiler Heizungen ist in der Schweiz immer noch sehr hoch, aber die Ablösung durch erneuerbare Energien läuft und wird gefördert. Ein weniger bekannter Teil der Emissionen stammt aus den Bautätigkeiten selbst, aus Neubau und Sanierungen. Die Ressourcengewinnung, die Produktion von Baustoffen sowie der Transport beruhen noch stark auf fossilen Energien, die Zementproduktion verursacht zusätzliche CO2-Emissionen. In Summe sind diese Emissionen ebenso relevant wie die Emissionen aus dem Betrieb. Bei einem heutigen Neubau werden über den gesamten Lebenszyklus sogar mehr Emissionen beim Bau verursacht als im Betrieb über 60 Jahre.

Für eine Wende im Bauwesen müssen also künftig Materialressourcen in vollem Umfang wiederverwendet und -verwertet werden können?

Das ist die Vision. Allerdings ist eine hundertprozentige Wiederverwendung weder ökonomisch sinnvoll noch notwendig. Heute stehen wir noch ganz am Anfang, es wird nur ein sehr geringer Anteil der im Bausektor vorhandenen Materialressourcen wiederverwendet. Global gesehen beträgt die Quote an wiederverwendeten Ressourcen nur um die 11 Prozent, in der Schweiz ist dieser Anteil ähnlich, obwohl wir uns «Recyclingweltmeister» nennen.

Eine Grundvoraussetzung für das kreislaufgerechte Konstruieren von Gebäuden sind sortenreine und schadstoffarme Baustoffe. Die Baustoffherstellung ist aber noch weit davon entfernt. Wie müssten Neubauten gestaltet werden, damit die Komponenten Jahrzehnte später wiederverwendet werden können?

Bereits heute sind viele Ansätze für das kreislaufgerechte Bauen bekannt und etabliert. Bei der Auswahl von Baustoffen und Bauteilen kann der Fokus auf Schadstofffreiheit gelegt werden, beispielsweise mit dem Minergie-ECO-Standard. Wenn Materialien möglichst sortenrein ausgewählt und trennbar – das heisst weder verklebt, verleimt noch beschichtet – verbaut werden, ist schon ein sehr grosser Schritt vollbracht. Diese Entwicklung braucht sowohl die Bauprodukt-Industrie wie auch die Bauherren und Planer – Angebot und Nachfrage müssen steigen, damit der Markt die notwendige Grösse, Skaleneffekte und Effizienzgewinne erzielt.

Welche Hebel zur Reduktion des CO2-Ausstosses bestehen bereits in der Erstellung?

Auch hier sind viele Prinzipien bekannt. Es ist wichtig zu verstehen, dass die grössten Hebel in den frühen strategischen und konzeptionellen Planungsphasen entschieden werden. Zunächst einmal gilt es zu hinterfragen, wie gross der Bedarf, zum Beispiel an Flächen, überhaupt ist. Gerade Büroflächen sind heute dank neuer Arbeitsformen, wie Home und Mobile Office, oft überdimensioniert. Als nächstes sollte immer die Frage «Bestandserhalt oder Neubau» gestellt werden. Durch den Erhalt eines Bestandsgebäudes können bis zu 70 Prozent der CO2-Emissionen gegenüber einem gleich grossen Neubau eingespart werden. Der nächste Hebel ist die Flächeneffizienz. Durch den Verzicht auf Untergeschosse, komplexe Fassadenstrukturen oder die Reduktion von Nebenflächen können Emissionen vermieden werden. Das Prinzip «weglassen» soll auch beim Ausbau konsequent angewandt werden, zum Beispiel durch einen Verzicht auf abgehängte Decken, Wandverkleidungen oder komplexe technische Installationen. All diesen Hebeln ist gemeinsam, dass nicht nur Emissionen, sondern auch Kosten gespart werden. Erst zuletzt kann durch die Auswahl von emissionsarmen Materialien oder den Einsatz von wiederverwendeten Materialien der CO2-Fussabruck eines Gebäudes nochmals minimiert werden.

Um das Prinzip Cradle to Cradle anwenden zu können, braucht es auch reversible Bauteilverbindungen. Wie gehen die Entwickler und Architekten damit um?

In diesem Bereich ist sicherlich der Bedarf an Innovation am grössten. Der heutige Baustandard ist nun einmal stark von «Kleben, Schäumen, Beschichten» geprägt. Es lohnt sich dabei sicherlich ein Blick zurück in die Baugeschichte. Historisch wurden Bauten nämlich immer reversibel erstellt und bestehende Gebäude wurden als Bauteil- und Materiallager für Neubauten verwendet.

Die Idee des Wiederverwendens ist sehr einleuchtend. Warum wird sie nur zögerlich umgesetzt?

Der Markt ist sowohl anbieter- wie auch nachfrageseitig noch in den Kinderschuhen. Darum fallen Mehrkosten oft nur darum an, weil die Suche nach Alternativen aufwändig ist und viele neue Fragen auftauchen. Mittelfristig ist das kreislaufwirtschaftliche Bauen allerdings alternativlos – aus Sicht der Klimakrise wie auch der Ressourcensituation. Darum lohnt es sich jetzt, in Wissensaufbau, neue Methoden, Prozesse und Technologien zu investieren. Denn die First Mover von heute werden die Gewinner von morgen sein.

Die Labels der Schweizer Gebäude- und Arealstandards wurden in den letzten zwei Jahren erneuert und vereinheitlicht. In welchen Bereichen in Bezug auf Kreislaufwirtschaft würden Sie die Schweizer Baubranche als fortschrittlich bezeichnen?

Hier würde ich aus persönlicher Sicht zwei Punkte hervorheben. Der Minergie-ECO-Standard ist schon seit vielen Jahren etabliert und bietet eine sehr gute Grundlage für schadstoffarmes Bauen. Zweitens das Grundprinzip bei den Arealstandards, dass für vorzeitig rückgebaute Bestandsgebäude die «verlorenen» CO2-Emissionen negativ angerechnet werden. Dies ist sehr innovativ und kann dazu führen, dass die Entscheidung «Rückbau oder Erhalt» neu bewertet wird.

Für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft braucht es auch einen Innen- und Mieterausbau, bei dem die eingesetzten Materialien hohe Anforderungen an die Zirkularität erfüllen. Wie wichtig ist das Augenmerk auf die Materialisierung und die Innenraumhygiene?

Beim Innenausbau spielt nicht nur die Kreislaufwirtschaft eine Rolle, sondern insbesondere die Gesundheit der Nutzenden. Daher sollten der Verzicht auf Schadstoffe, die Reduktion von Emissionen im Innenraum und intelligente, also nicht immer hoch-technisierte, Lösungen für die Regulierung der Luftqualität eine Selbstverständlichkeit sein. Es ist für mich unverständlich, dass die Mieter, welche das direkte Interesse der Nutzenden vertreten und den Mieterausbau auch bezahlen, auf diese Aspekte so wenig Wert legen.

Woran liegt das?

Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt im Innenausbau hinweisen. Da die Nutzungsdauer von Mieterausbauten (oft nur 5-10 Jahre) viel geringer ist als bei den Gebäuden selbst, ist das kreislaufwirtschaftliche Bauen umso wichtiger. Noch zu oft werden Mieterausbauten, welche noch voll funktionstüchtig und werthaltig sind, bei einem Mieterwechsel ausgetauscht und werden damit zu Abfall.

Wo ansonsten verklebte Materialien als Bauschutt anfallen, können die Materialien also wiederverwendet oder verkauft werden. Über den Lebens- oder Mieterzyklus gesehen, bleibt damit ein finanzieller Restwert, der nach abgeschlossenem Zyklus wieder ausgelöst werden kann. Besteht hier bereits ein Markt?

Bei den Innenausbauten gibt es erste Anbieter mit Geschäftsmodellen zum Leasing und Rücknahme von Bauteilen und Apparaten. Bei ganzen Gebäuden kann man noch nicht von einem Markt sprechen, aber fortschrittliche Eigentümer und Investoren wollen mehr Transparenz über die in den Gebäuden enthaltenen Materialwerte, beispielsweise über Gebäudematerialpässe wie Madaster. Der Markt wird sich entwickeln, aber die Werte sind schon da. Bei jedem Neubau und jeder Sanierung werden diese Werte generiert, vermehrt oder oder vernichtet. Darum lohnt es sich auch finanziell, heute mit kreislaufwirtschaftlichem Bauen anzufangen.

Ivo Angehrn ist Manager Nachhaltigkeit und Digitalisierung bei Drees & Sommer Schweiz.

Charta kreislauforientiertes Bauen
Zwölf der grössten öffentlichen und privaten Bauauftraggeber in der Schweiz haben die «Charta kreislauforientiertes Bauen» unterzeichnet und bekennen sie sich zu einer gemeinsamen Ambition, bis 2030 die Verwendung von nicht erneuerbaren Primärrohstoffen auf 50 Prozent der Gesamtmasse zu reduzieren, die grauen Treibhausgasemissionen zu erfassen und stark zu reduzieren sowie die Kreislauffähigkeit von Sanierungen und Neubauten zu messen und stark zu verbessern. Sie sind entschlossen, die Kreislaufwirtschaft in der Schweizer Bauwirtschaft entscheidende Schritte voranzubringen. Gemeinsam möchten sie lernen und laden weitere Bauherrschaften ein, der Charta beizutreten. Im Vordergrund steht das auf Freiwilligkeit basierende Zusammenwirken und Vernetzen und das gemeinsame Lernen mit dem Ziel, konkrete Schritte in Richtung kreislauforientiertes Bauen auszulösen. Die Erstunterzeichner der Charta sind: Allreal; AXA Investment Managers Schweiz AG; Baudirektion Kanton Zürich; Bundesamt für Bauten und Logistik BBL; Empa; Hochbaudepartement Stadt Zürich; Post Immobilien Management und Services AG; Swiss Prime Site; Swiss Life Asset Management AG; UBS Fund Management (Switzerland) AG; Zug Estates; Zurich Invest AG.