Die meisten heutigen Aktivitäten im Bereich ESG und Nachhaltigkeit zeigten Symptome eines kombinierten Staats- und Marktversagens auf, sagt David Belart, Head Development & ESG bei der Avobis Group. Er plädiert für mehr Suffizienz und warnt vor der Vernachlässigung der sozialen Themen bei der Betrachtung von ESG.

Die Sanierungsquote ist in der Schweiz mit einem Prozent sehr tief. Immobilienbesitzer scheuen oft die teuren Sanierungskosten. Fördermassnahmen der öffentlichen Hand tragen zu deren Reduktion bei. Doch wie gross ist die Anreizwirkung?

David Belart: Die Anreizwirkung von Fördermassnahmen ist aus meiner Sicht relativ gering. Sie haben meines Erachtens wenig Einfluss auf den eigentlichen Grundsatzentscheid, eine Liegenschaft zu sanieren. Dementsprechend führen sie zum sogenannten Mitnahmeeffekt, nämlich dass diese Subventionen gerne einkassiert werden bei Sanierungen, welche ohnehin stattfinden.

Der grösste Teil der Schweizer Immobilien ist älter als 40 Jahre, rund 1.5 Millionen Gebäude sind energetisch dringend sanierungsbedürftig. Die Sanierungsquote ist tief: Aktuell liegt sie bei nur rund einem Prozent jährlich. Es würde also 100 Jahre dauern, bis in der Schweiz alle Gebäude einen langfristig nachhaltigen Standard erreicht hätten. Wie kann der Sanierungsstau gelöst werden?

Der Sanierungsstau allein ist die kleinere Herausforderung als die Modernisierung des Gebäudeparks im Allgemeinen, welche primär auch eine Ausweitung des Wohnraumangebots umfassen muss. Deshalb muss dafür gesorgt werden, dass mittels effektiver und intelligenter Baumassnahmen nachhaltiger Wohn- und Arbeitsraum erstellt und bewirtschaftet werden kann: in attraktiven Siedlungen mit einer effizienten Infrastruktur. Um dies zu erreichen, sind Normen und Regulatorien, aber auch etablierte Prozesse zu hinterfragen. Der alleinige Fokus auf den Sanierungsstau birgt das Risiko, einer überbordenden Dämmstoff- und Haustechnikindustrie in die Hände zu spielen und betriebliche Optimierungspotenziale im Bestand sowie die Graue Energie der Sanierungsaktivitäten zu vernachlässigen.

Wie gehen die öffentliche Hand und die grossen Portfoliobesitzer mit diesem Sanierungsstau und den damit entstehenden Kosten um?

Beide Arten von Immobilieneigentümern verfügen über ihre eigenen Netto-Null-Strategien, jeweils in unterschiedlichen Ausprägungen. Bei der öffentlichen Hand liegt aufgrund der impliziten gesellschaftlichen Verantwortung und den Schwerpunktnutzungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich die langfristige Ausrichtung des Portfolios auf der Hand. Auch die institutionellen Anleger verfügen über einen langfristigen Anlagehorizont. Dieses langfristige Denken ist der Schlüssel zur Nachhaltigkeit. Es basiert auf der Erkenntnis, dass die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Schäden respektive Kosten von nicht nachhaltigem Handeln auf lange Sicht grösser sind als die heute notwendigen Investitionen. So sind in der Regel auch die entsprechenden Mittel, wie Steuergelder oder der entsprechende Anlagedruck, zur Genüge vorhanden, um den Sanierungsstau zu bewältigen. Die grösseren Hürden dürften eher mangelnde personelle Ressourcen und die steigende Komplexität und Regulierung beim Bauen im Bestand darstellen.

Besteht eine Zahlungsbereitschaft bei der Mieterschaft für höhere Mieten, um in einem nachhaltig gebauten oder sanierten Gebäude zu wohnen?

Bei Mietwohnungen kann eine erhöhte Zahlungsbereitschaft empirisch weniger nachgewiesen werden als bei Wohneigentum. Auf der Ebene der Nettomiete ist jedoch offensichtlich, dass angesichts der Einsparungen bei den Nebenkosten durch die Differenz zwischen fossil beheizten oder weniger gut gedämmten Liegenschaften im Vergleich mit modernisierten Liegenschaften eine höhere Zahlungsbereitschaft entsteht.

Die Kreislaufwirtschaft könnte viel zum nachhaltigen Bauen beitragen: Aktuell sind die meisten Bauteile so verbaut und verklebt, dass sie kaum wiederverwendet werden können. Gibt es Exit-Werte von nachhaltigen Bauteilen im Sinne der Kreislaufwirtschaft und wie werden sich diese auf die Bau- und Sanierungskosten auswirken?

Es gibt einige interessante Ansätze, das zirkuläre Bauen besser mess- und planbar zu machen. Beispielsweise ein Materialpass für Gebäude, welcher die Zusammensetzung und den Wert der verbauten Materialien pro Liegenschaft übersichtlich zusammenfasst. Ebenso entstehen Plattformen und damit Märkte für gebrauchte Bauteile, welche die Anreize für zirkuläres Bauen steigern.

Besteht bei der Entwicklung des Emissions-Zertifikate-Marktes Kostenwahrheit? Im Moment sind es 92 Euro pro Tonne. Ist das zu wenig?

Ja, es ist zu wenig. Hier liegt der Hund begraben. Von Kostenwahrheit kann dann gesprochen werden, wenn sämtliche Umwelt- und Klimaschäden verursachergerecht internalisiert sind. Laut einer Studie des UBA[1]ist dies bei einem Preis von rund EUR 180 der Fall. Davon sind wir zu weit weg. Eine Preisentwicklung in diese Richtung ist unvermeidbar, zumal in der Verhaltensökonomie auch deren Wirksamkeit für die Erreichung der Klimaziele nachgewiesen wurde[2]. Politisch war dies bisher schwierig umzusetzen, was die Ablehnung des CO2-Gesetzes 2021 zeigte, welches lediglich eine Erhöhung auf harmlose CHF 120 pro Tonne vorsah[3]. Die meisten heutigen Aktivitäten im Bereich ESG und Nachhaltigkeit im Sinne von Berichterstattungsbürokratien und Fördermassnahmen, sind nichts anderes als Symptome eines kombinierten Staats- und Marktversagens, das im besten Fall das Umweltbewusstsein fördert und die Konsumenten und Unternehmen für die nahe Zukunft trainiert, die uns mit deutlich höheren CO2-Preisen konfrontieren wird. Umgekehrt werden aber auch diejenigen Akteure belohnt werden, welche frühzeitig fossilfrei sind.

Bei der Betrachtung der Nachhaltigkeit ESG werden die «S & G»-Themen oft vernachlässigt, da die Messbarkeit schwieriger ist als beim E. Besteht hier die Gefahr des «Gegeneinander-Ausspielens» von ökologischen und sozialen Themen?

Ja, dieses Risiko besteht und es manifestiert sich in der politisch schwierigen Umsetzbarkeit von höheren CO2-Preisen. Global gesehen ist es offensichtlich, dass die Vermeidung von Klima- und Umweltschäden kein Zielkonflikt mit gesellschaftlichen Fragen hervorruft. Auf der lokalen Ebene wird jedoch die berechtigte Frage nach der Erschwinglichkeit der Energiewende für sozial schwache Bevölkerungsschichten gestellt. Auch dieser Zielkonflikt löst sich auf, wenn man die Geschichte an einem anderen Ort zu erzählen beginnt, nämlich bei Steuersenkungen, welche primär dafür sorgen sollen, die gesellschaftlichen Unterschiede zu reduzieren und die Kaufkraft für die bevorstehende Kostenwahrheit zu stärken.

Suffizienz als Prinzip zur Reduktion des CO2-Fussabdruckes: Die reine Effizienzbetrachtung, die leider häufig kompensiert wird durch mehr Konsum. Häuser brauchen zwar weniger Energie, aber der einzelne Mensch will mehr Quadratmeter zum Wohnen. Ist das sinnvoll?

Suffizienz wird unumgänglich sein. Zum einen stösst dieses Prinzip bei vielen Menschen auf Anklang und nicht nur bei jenen, die postmateriell orientiert sind. Bewusstes Konsumverhalten und die Berücksichtigung von begrenzten Ressourcen sind keine exotischen Nischenphänomene mehr. Zum anderen wird die zukünftige Entwicklung des CO2-Preises der Suffizienz auch wirtschaftlich ein stärkeres Gewicht verleihen: Suffizient zu agieren wird dann schlicht und einfach bedeuten, dass man Geld spart.

Wonach erkundigen sich Investoren beim Thema Nachhaltigkeit am häufigsten und was dürfte noch kommen?  

Aktuell werden viele Fragen im Hinblick auf Messbarkeit, Transparenz und Berichterstattung gestellt. Branchenstandards und regulatorische Vorschriften erfordern dies und wir unterstützen unsere KundInnen dabei. Ebenso wird nachgefragt, welche Szenarien für die Modernisierung von Liegenschaften bestehen und wie diese hinsichtlich Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit zu beurteilen sind. In Zukunft dürfte der Einbezug des zirkulären Bauens in der Modernisierung an Bedeutung gewinnen, nämlich einerseits beim Erhalt von bestehenden Strukturen – wenn man nämlich den Bestand als Ressource sieht – sowie auch bei den konstruktiven Konzepten der neu hinzugefügten Bauteile im Hinblick auf deren Lebenszyklus.

David Belart ist Herad Development & ESG bei der Avobis Group.

[1] Quelle: Hohe Kosten durch unterlassenen Umweltschutz | Umweltbundesamt

[2] Quelle: Forschende der Universität Bern haben eine neue verhaltensökonomische Methode entwickelt, um die Wirkung von CO2-Preisen und ihrer Folgen für die Umwelt unter kontrollierten Laborbedingungen zu testen: der Carbon Emission Task. Die Ergebnisse ermöglichen eine Erforschung der Wirksamkeit von CO2-Steuern, die in der Bekämpfung des Klimawandels als zentrales Lenkungsinstrument gelten. (unibe.ch)

[3] CO2-Gesetz (admin.ch)