Schweizer Gemeinden sind dazu angehalten, nach innen zu verdichten und ihre Raum- und Siedlungsentwicklung zu überdenken. Wenn es unter den aktuellen Herausforderungen auch in Zukunft menschenfreundliche und lebenswerte Städte und Dörfer geben soll, muss ein systematisches Umdenken stattfinden, sagt Architektin und Raumplanerin Sabrina Contratto.

 Die Städte haben es schwer: es muss verdichtet gebaut werden, um der Siedlungsausdehnung entgegen zu treten, doch die Verdichtung wird nun gerade während der Pandemie immer weniger akzeptiert. Wird zurzeit an den Bedürfnissen vorbeigeplant?

Sabrina Contratto: Ich kann der Aussage ‚Städte haben es schwer’ nur bedingt zustimmen. Ja, Städte haben es schwer, qualitativ geordnet zu wachsen. Und Nein, es liegt nicht an der ‚bösen‘ Verdichtung, sondern daran, dass es in der Schweiz bis heute keine zukunftsgerichteten, städtebauliche  – dreidimensionale – Strategien gibt, die ein qualitätsvolles Wachstum und die Sicherstellung attraktiver öffentlichen Räume, also auch städtische Freiräume, abbildet. Die Darstellung einer solchen Strategie im physischen Stadtmodell hätte für die Behörden, die Bevölkerung und Grundeigentümer gleichermassen eine Vermittlungsfunktion, würde Gewissheit schaffen und im besten Fall eine Entwicklungsdynamik an den richtigen Orten auslösen.

Um auf ihre Frage zurückzukommen: Ja, es wird nach wie vor an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigeplant.

Es gibt Prognosen, die eine Rückkehr der Familien in die Vorstädte und aufs Land voraussagen. Homeoffice unterstützt diese Tendenz zusätzlich. Doch das kann kleine Gemeinden vor enorme Herausforderungen stellen. Was können diese tun?

Die sogenannte Rückkehr junger Familien aufs Land ist ein altbekanntes Ereignis. Erlauben Sie mir dazu einen Blick in die Vergangenheit. Bis heute ist die Schweiz der einzige europäische Staat, der aus einem Zusammenschluss von städtischen und ländlichen Kernen entstanden ist und sich nicht von einem Zentrum heraus entwickelt hat. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich der Gedanke, das ‘Antiurbane’, also der Boden, die Natur und die Berge zu zelebrieren. Junge Familien, die das ländlichere Leben suchen, sind oft selbst auf dem Land aufgewachsen. Die Erinnerung an das ‘abenteuerliche’ Leben, die überschaubaren Nachbarschaften und das übersichtlich Kleinräumige rückt in der Phase der Familiengründung in den Vordergrund, während in der Empty-Nest-Phase erneut die Erinnerung an das frühere Stadtleben greift und eine erneute Verschiebung in die Stadt folgt.

Aus meiner Sicht sollte alles darangesetzt werden, ein Wachstum in kleineren Gemeinden, also mit weniger als 10‘000 Einwohnern, zu vermeiden. Das Wachstum sollte in Städten – also mit mehr als 10‘000 Einwohnern – gefördert werden, die infrastrukturell bereits gut aufgestellt sind, wie mit einem breiten ÖV-Netz sowie Bildungs-, Verwaltungs- und Gesundheitsinfrastrukturen.

Was hätte das für Auswirkungen?

Dies bedeutet, dass in diesen prädestinierten Städten das Angebot unterschiedlichster, nachgefragter und neuer Nutzungen geschaffen werden muss. Dies ist allerdings nicht im Rahmen eines Zonenplans machbar, sondern bedarf einer Vision, die vorbehaltlos mit der Bevölkerung abgestimmt werden muss.

Der Zuzug in die urbanen Räume wird aber weitergehen und die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft noch zusätzlich verschärfen. Auf das Leben in Städten sind 70 Prozent des Energieverbrauchs und die damit verbundenen Treibhausgasemissionen zurückzuführen. Die Städte als bedeutende Lebensräume der Menschen und prosperierende Zentren der Wirtschaftsleistung müssen auf diese Entwicklungen reagieren. Wie sollen sie dies tun?

Ein erster Ansatz wäre, die Fussläufigkeit innerhalb eines Gebietes zu erhöhen. Das bedeutet, an zentraler Lage ein hohes und diversifiziertes Nutzungsangebot zu schaffen, bei dem alle Alltagsaktivitäten in maximal 10 Minuten zu Fuss erreichbar sind: Wohnung, Arbeitsplatz, Gastrolokale, Ärzte, Fitnesscenters, Retail und Freizeitangebote. Voraussetzung ist eine Mindestdichte von Personen, also Nutzern innerhalb dieses Gebietes. Die Folgen? Erhöhte aktive Mobilität, also zu Fuss oder mit dem Fahrrad und verringerte passive Mobilität, wie mit dem Auto oder ÖV. Zudem weniger CO2-Ausstoss (Treibhauseffekt), weniger Stau und Stress sowie erhöhte Nutzungsqualität öffentlicher Räume (Stassen und Plätze). Jede Stadt braucht eine robustes Freiraumgerüst, das nebst der Erholung und sozialen Aspekten zunehmend stadtklimatische Aufgaben wie Frischluftkorridior und kühlende Begrünungen berücksichtigen muss.

Eine Smart City stellt sich diesen Herausforderungen proaktiv und ist bestrebt, diese Herausforderung als Chance zu begreifen. So die Theorie. Was ist unter Smart City zu verstehen?

Smart Citys verfolgen das Ziel, Städte effizienter, begrünter und gesellschaftlich abgestützter zu gestalten. In erster Linie liegt diesen Smart Citys eine technologiebasierte Vernetzung zugrunde, die es erlaubt, zu kommentieren, koordinieren, kontrollieren und messen, also in erster Linie quantitative Ereignisse. Smart bezieht sich also auf eine ‘intelligente, schlaue’ Technologie.

Smart Citys bieten ihren BewohnerInnen glaubwürdige Perspektiven für eine intelligente, zukunftsfähige und chancenorientierte Stadt?

Das mag ich zu bezweifeln. Smart Citys erfassen den Ist-Zustand und liefern maximale Erkenntnisse über Bedürfnisse, funktionalen Status und räumliche Missstände, aber sie generieren keine Konzepte für eine zukunftsfähige und qualitätsvolle Stadt.

Die Zuwanderung, ein wichtiger Nachfragetreiber für die Bau- und Immobilienwirtschaft, ging in den letzten Jahren zurück. Die Immobilienwirtschaft bemüht sich, nicht zu viele Bauten zu entwickeln und versucht, die Leerstände zu minimieren. Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Umdenken in der Raumplanung?

Seit 1979 fordert das Raumplanungsgesetz, dass Bund, Kantone und Gemeinden dafür zu sorgen haben, dass erstens der Boden haushälterisch genutzt wird; zweitens alle raumwirksamen Tätigkeiten, also Verkehr, Siedlung und Landschaft aufeinander abgestimmt werden müssen; drittens für eine Ordnung in der Besiedlung gesorgt werden muss, und viertens auf die natürlichen Gegebenheiten und die Bedürfnisse der Bevölkerung und Wirtschaft geachtet werden muss. Bis heute kommt die Raumplanung allen Punkten nicht gebührend nach. Zum einen übertragen die Kantone den Gemeinden die Hauptsteuerung, welche oft inhaltlich, aber auch ressourcentechnisch überfordert sind, zum anderen ist es den Planungsinstrumenten geschuldet, namentlich den Richt- und Zonenplänen, die weder eine systematische Herleitung von Mindestpersonendichten an prädestinierten Orten noch die Qualität der öffentlichen Räume behandeln.

In den Städten mit hoher infrastruktureller Ausstattung sind die Bauzonen nach wie vor viel zu restriktiv geregelt, was bei steigender Nachfrage zu immer absurderen Bodenpreisen führt und die Abwanderung der einkommensschwächeren Haushalte in die ländlicheren Gegenden zur Folge hat. Diese infrastrukturell ungenügend abgedeckten Vororte wiederum verfügen aus raumplanerischer Sicht über viel zu viele Baulandreserven, die durch institutionelle Anleger entwickelt werden, sehr wohl im Bewusstsein, dass an diesen Orten niemand wohnen will, und somit grosse Leerstände in Kauf genommen werden. Diese leerstehenden Liegenschaften wiederum sind für ganze Quartiere rufschädigend. Der Teufelskreis ist geboren.

Das Raumplanungsgesetz wird oft als zahnloser Tiger bezeichnet. Ein schlechtes Beispiel sind die Industriezonen, die landauf landab immer noch für unkoordinierte Zersiedelung der Landschaft sorgen. Selten suchen Firmen Gleichgesinnte zur gemeinsamen Realisierung eines Gebäudes, um damit Land zu sparen. Was könnte die Raumplanung tun?  

Dieser Thematik widmet sich unsere, zusammen mit Sibylle Wälty’s Researchier GmbH, entwickelte Methodik UrbanVision4.0. Wir proklamieren ein ganzheitliches Umdenken in der Raumplanung, indem wir datenbasierte Raumwissenschaften mit Empirie und städtebaulicher Kompetenz kombinieren.

Was ist darunter zu verstehen?

Das bedeutet, dass wir nicht wie herkömmlich nur vereinzelte Areale städtebaulich und raumplanerisch betrachten, sondern die ganze Gemeinde, beziehungsweise Stadt. Dabei bedienen wir uns jeweils einem Betrachtungsperimeter von 500 Metern Radius, also die zu Beginn erwähnte 10-minütige Fussläufigkeit, und entwickeln eine datenbasierte, langfristige und dreidimensionale Wachstumsstrategie für dieses Gebiet. Dabei werden sämtliche Stakeholder, inklusive Verwaltung, frühzeitig in diesen Prozess integriert und gemeinsam Szenarien entwickelt, bei der wir Mindestpersonendichten sowie ein funktionierendes Verhältnis von Bewohner zu Beschäftigten vorschlagen. Die daraus entwickelten mehrheitsfähigen Personendichten wandeln wir in eine kurz-, mittel- und langfristige städtebauliche – also volumetrisch dargestellte – Vision aus, die das Wachstumspotenzial aber vor allem die Qualitäten und Dimensionen der öffentlichen Räume abbildet. Diese Vision bringt erfahrungsgemäss Planungssicherheit für Grundeigentümer und stellt ein qualitatives Wachstum sicher. Themen wie öffentliche Nutzungen, Infrastrukturen, Mobilität und gesellschaftliche Bedürfnisse werden bereits zu diesem Zeitpunkt integriert. Die Stadt ist vorbereitet und hat einen Wachstumsplan.

Interview: Remi Buchschacher

Sabrina Contratto, Dipl. Arch. ETH SIA CAS Urban Managment, ist Inhaberin der CONT-S, Dozentin und Verwaltungsrätin. Sie entwickelte zusammen mit Sibylle Wälty, Researchier GmbH, die UrbanVision4.0. Foto © Reto Tuchschmid

 

Die Methodik UrbanVision4.0 proklamiert ein ganzheitliches Umdenken in der Raumplanung als Kombination zwischen datenbasierten Raumwissenschaften mit Empirie und städtebaulicher Kompetenz. Foto: UrbanVision4.0 © CONT-S/researchier