Hindert das ISOS Stadt und Land auf dem Weg zur 10-Millionen Schweiz? Das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung ist als behördenverbindliche Grundlage für Kantone und Gemeinden stark umstritten. Die Idee von Inventaren war es aber ursprünglich, Achtsamkeit für alle Beteiligten zu bewirken.

Es sind fast überall in Schweizer Gemeinden die gleichen Abläufe festzustellen: Verdichtungsvorhaben, vor allem in den Zentrumslagen, stossen auf grossen Widerstand. Nicht nur die betroffene Bevölkerung lehnt sich oft dagegen auf, auch Heimat- und Denkmalschutz machen den Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Und das kann teuer werden: Wer sein Projekt bis zur Baueingabe vorantreibt, gibt sehr viel Geld aus. Wenn das Projekt dann abgelehnt oder blockiert wird, kommt das oft einem Totalschaden gleich. Eine Situation, die Planer und Schützer immer häufiger überfordert und mal auf Behördenseite, mal auf der Planungsseite oder mal auf Seite der Bewahrer Gewinner oder Verlierer hervorbringt.

In Kirchberg am Zürichsee zum Beispiel, scheint der Wille zur Neugestaltung des Zentrums für einmal von Seiten der Behörden grösser zu sein, als die Schutzwürdigkeit eines der ältesten Gebäude im Kanton Zürich zu unterstreichen, wie die Tageszeitung «Blick» berichtet. Anstelle des Bauernhauses plant Coop einen Neubau mit Wohnungen und Laden. Das Haus ­– ein 370 Jahre altes Weinbauernhaus – soll abgerissen werden. Beim Heimatschutz ist man entsetzt und sprachlos. Ein Rekurs steht so gut wie fest, eines der ältesten Häuser am Zürichsee dürfe nicht ohne Not abgebrochen werden. Eine Argumentation, der man angesichts der historischen Wichtigkeit des Gebäudes durchaus folgen kann.

Scharfe Kritik in Zürich

Doch es gibt auch viele andere Beispiele, die der Bau- und Immobilienwirtschaft immer wieder Bauchschmerzen bereiten. Vor allem in der Stadt und im Kanton Zürich wird das ISOS immer wieder zum Gegenstand scharfer Kritik. Das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung ist als behördenverbindliche Grundlage für Kantone und Gemeinden stark umstritten. Das ISOS hilft als Grundlageninstrument des Bundes, baukulturelle Werte zu erkennen und langfristig zu sichern. Im Unterschied zu kommunalen und kantonalen Inventaren, die sich vor allem mit Einzelobjekten befassen, erfasst das ISOS in erster Linie Siedlungen in ihrer Gesamtheit. Landesweit sind rund 1200 Ortsbilder dokumentiert. In der Stadt Zürich ist rund 75 Prozent des Siedlungsgebiets mit ISOS-Schutzzielen belegt. Das Inventar betrachtet ein Ortsbild flächendeckend und unterteilt das Siedlungsgebiet dann in Gebiete mit unterschiedlichen Erhaltungszielen. Die Erhaltungsziele bedeuten aber nicht, dass ein Gebiet per se unter Schutz gestellt ist, sondern lediglich, dass dieses schützenswert ist. Soweit so gut, schützenswerte Objekte beinhalten nicht nur einen historischen Schatz, sie sind meistens auch optisch nicht von ihrem Standort wegzudenken. Doch losgelöst von der breit akzeptierten Umsetzung über die Nutzungsplanung, gewinnt nun aber die sogenannte Direktanwendung des ISOS aktuell unverhältnismässig an Bedeutung.

Direktanwendungen kommen dann zum Zug, wenn eine Planung im ISOS-Perimeter liegt und gleichzeitig die Erfüllung mindestens einer weiteren Bundesaufgabe betroffen ist. Als Bundesaufgaben gelten etwa der Grundwasserschutz, aber auch der Bau von Photovoltaikanlagen, Schutzräumen oder Mobilfunkantennen. Das ISOS kann in solchen Fällen Vorgaben aus der Bau- und Zonenordnung, Richtplänen und Gestaltungsplänen übersteuern. Die Folge: Projekte werden nach langjähriger Planung und sorgfältiger Interessensabwägung zurückgewiesen. Und genau diese Direktanwendung kommt der Immobilien- und Baubranche immer wieder in die Quere, es ist sogar von einer Baubewilligungsblockade die Rede. In der Tat: Das ISOS kommt in Zürich bei der Mehrheit der jährlich rund 4000 Baugesuche zur Direktanwendung. Die Auswirkungen beschränken sich dabei nicht auf Verzögerungen. Es ist mit massgeblichen Anpassungen oder der Verhinderung von Bauprojekten zu rechnen.

Verfahren muss klar sein

Doch es gibt auch viele Beispiele für gelungene Verdichtungsprojekte in ISOS-Ortsbildern. Dort wurde der Wohnungsbau nicht verhindert, aber eine Auseinandersetzung mit dem Ort ausgelöst, die zu passenden Projekten geführt hat. Wichtig ist, dass die Verfahren und Instrumente für alle Beteiligten klar sind, dass von Anfang an die richtigen Weichen gestellt werden, dass Rechts- und Planungssicherheit erreicht werden kann. Doch Investoren sprechen derzeit von einer totalen Rechtsunsicherheit bei Bauvorhaben in der Stadt Zürich. In Schwamendingen kann zum Beispiel die ASIG-Wohngenossenschaft ein Projekt mit rund 1000 Wohnungen vorerst nicht bauen – trotz 15 Jahren Planung und gültigem Gestaltungsplan. «Der ISOS-Übergriff dürfte ziemlich sicher über kurz oder lang korrigiert werden. Doch das wird Jahre dauern. Besser wäre es, künftig Gesetze und Verfassungsbestimmungen viel penibler dahingehend zu prüfen, welchen Schaden sie langfristig anrichten können», schlägt dazu Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz vor. Wie immer sind Inventare in der Raumplanung eine heikle Sache. Vordergründig als Orientierungshilfe gedacht, werden sie für die verschiedensten Zwecke missbraucht. Sie zeigen aber auch auf, wie schwierig der Umgang mit der städtebaulichen Substanz ist, sobald durch Richter rechtliche Festlegungen aufgrund bloss vermuteter Schutzwürdigkeit gefordert werden. Die Idee von Inventaren war es aber ursprünglich, Achtsamkeit für alle Beteiligten zu bewirken.

Angriff auf das «Königreich»

Der Luzerner Kantonsrat probt gegen den Denkmalschutz den Aufstand. Gemeinden im Kanton Luzern sollen Entscheide der kantonalen Denkmalpflege durch Abstimmungen aufheben können. Das fordert eine Motion, die der Luzerner Kantonsrat überwiesen hat – trotz juristischer Bedenken der Regierung. Damit würde das Rekursrecht vom Gericht zum Volk verschoben. Die Mehrheit des Parlaments teilt damit die Haltung des Regierungsrats nicht, dass die Motion aus juristischen Gründen nicht umgesetzt werden könne. Der Vorstoss setze am «völlig falschen Ende» an, warnte im Parlament Regierungsrat Armin Hartmann (SVP) vergeblich. Motionär Hanspeter Bucheli (Mitte) ist der Meinung, dass mit dem Denkmalschutz, wie er heute angewendet werde, vor lauter Vergangenheit die Zukunft verhindert werde. «Der Gesetzgeber hat ein Königreich geschaffen», sagte er.