Elvira Bieri ist Geschäftsführerin der SSREI AG. Als ehemalige und langjährige Länderchefin der SGS Société Générale de Surveillance SA verfügt sie über ausgewiesene Erfahrung im Bereich Standards und Zertifizierung. Sie antwortet auf elf Thesen zum Thema Standards zur Klärung von Missverständnissen.
Standards sind wichtig, sie regeln nicht nur das Zusammenleben, sie sind in der Wirtschaft nicht wegzudenken. Warum harzt es mit den Standards ausgerechnet im Nachhaltigkeitsbereich bei Immobilien? Die Menge an Gebäudestandards in der Schweiz überblickt niemand mehr.
Viele Länder haben noch keine Gebäudestandards, in der Schweiz haben wir zu viele, insbesondere deshalb, weil ausländische Standards zur Anwendung kommen. Um den Gebäudebestand nachhaltig zu betreiben sowie weiterzuentwickeln, und um Bauvorhaben nachhaltig auszuführen, steht uns mit den Schweizer Standards jedoch ein vollständiges Instrumentarium zur Verfügung: SNBS respektive Minergie fürs Bauen, SSREI respektive GEAK für die Bestandsqualität, SGNI – DGNB-GiB für den Betrieb und, wer eine umfassend nachhaltige Unternehmensführung anstrebt, der lässt sich nach GRESB benchmarken. Im Leitfaden «Nachhaltigkeits-Standards für Immobilien» (siehe Kästchen) wurden die in der Schweiz bekannten Gebäudestandards für den Bestand beschrieben und einander gegenübergestellt. Den Überblick verloren haben wir trotz der Menge nicht.
Ausländische Standards sind also ungeeignet für die Schweiz.
Baunormen sind stets lokal und Nachhaltigkeit hat etwas mit der lokalen Baukultur zu tun. Zwar sind die Themen weitgehend überschneidend, jedoch nicht gleich ausgeprägt, was sich in den Standards niederschlägt. So sind beispielsweise Ausnützung und Nutzungsdichte in der Schweiz wegen der Wohnungsknappheit eminent wichtige Themen, welche sich in ausländischen Standards in dieser Ausprägung nicht finden. SIA hat mit der Norm 112/1 «Nachhaltiges Bauen – Hochbau» ein einheitliches Verständnis von nachhaltigen Gebäuden geschaffen. SNBS respektive SSREI sind Umsetzungen dieser Kriterien in Gebäudebewertungsinstrumente. Wenn wir die Transformation des Schweizer Gebäudebestands in konsistenter Art und Weise vollziehen und unsere Baukultur stärken wollen, dann ist die Branche angehalten, unsere Standards anzuwenden.
Gebäudestandards ändern sie permanent und es kommen neue auf den Markt.
Die SIA 112/1 «Nachhaltiges Bauen – Hochbau» wurde 2004 erstmals publiziert und 2017 nachjustiert, aber in den Grundsätzen nicht angepasst. Standards werden üblicherweise periodisch verbessert; so kennt die ISO den 5-Jahres-Zyklus.
Nachhaltige Anlagen sind ein «Hype», der verschwinden wird, wie er gekommen ist. Wie beurteilen Sie diesen Satz?
Nachhaltigkeit ist längst Teil des Risiko-Managements der Wirtschaft. Ebenso ist der Gesetzgeber nachgezogen. Wie immer bei einem jungen Gebiet kommen zuerst unzählige Lösungen unkoordiniert auf den Markt. Danach folgt die Phase der Konsolidierung, woraus dann Struktur und Ordnung entsteht. Solange die offenkundigen Probleme nicht gelöst sind, ist diese Thematik nicht aus unserer Wirtschaft und Gesellschaft wegzudenken.
Standards tragen also zu dieser Ordnung und letztlich zur Lösung bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung bei. Befinden sich die richtigen Standards im Eigentum von Non Profit Organisationen?
Die Rechtsform ist kein Kriterium für die Anerkennung von Standards. Wesentlich ist, dass die Standards sogenannte Certification Schemes sind, das heisst, öffentlich zugänglich sind und durch unabhängige Dritte kontrolliert werden. buildingSMART International Ltd., welche Standards für die digitale Transformation der Baubranche entwickelt, ist eine privatrechtliche Organisation. Die BSI Group, SGS – wo der SSREI seinen Ursprung hat – und viele mehr gehören zu den internationalen Marktführern für Normen und Zertifizierung.
Organisationen, die Beratung/Bewertung und Zertifizierung anbieten, verhalten sich also regelwidrig?
Beratungsfirmen dürfen als Prüfer tätig sein – aber nicht beim selben Kunden. Bietet eine Firma beide Dienstleistungen an, so muss sie sich bei jedem Kunden für eine der beiden entscheiden. Die Logik ist: Man darf seine eigene Arbeit nicht überprüfen.
Normen und Standards haben keine echte Bedeutung; verbindlich sind demnach nur Gesetze?
Das Produktesicherheitsgesetz (PrSG) verlangt die Erfüllung der Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen und verweist dabei auf die technischen Normen. Firmen sind oft nicht lieferfähig, wenn sie keine Managementsystem-Zertifizierung nachweisen können. Standards und Normen haben demnach quasi-regulativen Charakter. Gerade im Schweizer Immobilienmarkt setzt man auf Selbstregulierung, das heisst auf privat vereinbarte Regeln.
Standards schaffen Transparenz und Vergleichbarkeit. Doch niemand will diese. Sind Transparenz und Vergleichbarkeit gar nicht gewünscht?
Man muss unterscheiden zwischen inhaltlicher und methodischer Transparenz. REIDA, ein Standard für Energie-Monitoring und -umrechnung in CO2-Emissionen, beweist, dass methodische Transparenz erwünscht ist. Unterschiedliche Methoden führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was weder im Sinne der Immobilienbesitzer noch der Anleger ist. Bei den umfassenden Standards für den Bestand geht es nicht nur um die Energiedaten, sondern um den Bilanzwert. Dieser darf nicht der Willkür des Bewerters ausgesetzt sein, wogegen es nur ein Mittel gibt: Einheitliche Methodik, sprich Standard.
Ist also das Thema Nachhaltigkeit bei den Bewertern noch nicht angekommen?
Mit NUWEL, dem Leitfaden «Nachhaltigkeit und Wertermittlung von Immobilien», hat sich die Bewerterbranche der DACH-Länder bereits 2011 zur Nachhaltigkeit geäussert. 2017 wurde der SVS um ein Nachhaltigkeitskapitel ergänzt und das Schätzerhandbuch angepasst. 2022 hat RICS die Guideline «Sustainability and ESG in commercial property valuation and strategic advice» herausgegeben. Die Grundlagen sind also da. Noch fehlt die Umsetzung, weil Nachhaltigkeitskriterien oft «intangibel» sind und der Schätzer auf empirisch erhärtete Daten angewiesen ist. Diese werden einmal mehr aus den standardisierten Portfolioanalysen gewonnen.
Das Gros der Immobilienbesitzer will offenbar keine verbindlichen Bewertungsregeln, geht doch damit das Risiko von Bilanzbereinigungen einher. Was ist die Konsequenz davon?
Man stelle sich die Finanzrevision ohne einvernehmliche Methoden wie Swiss GAAP FER respektive IFRS oder die Bewertungsbranche ohne definierte Methoden wie DCF vor! Es wird zu Bilanzbereinigungen in beide Richtungen kommen. Aber der Eigentümer hat es in der Hand, die Richtung mit geeigneten Massnahmen zu beeinflussen.
Es braucht kein aktives Portfolio-Management – es reicht, wenn man Nachhaltigkeit im Rahmen von Sanierungen vorantreibt, wird etwa als Argument eingebracht. Verliert das Thema Nachhaltigkeit dadurch nicht an Bedeutung?
«Im Betrieb liegt das Potenzial», so die Aussage von Andreas Meyer, Geschäftsführer Minergie (Quelle: RICS-HSLU-Webinar vom 23.6.2023). Und dies gilt nicht nur für das Thema Energie. Die Standards für den Bestand sind so ausgelegt, auch operative Opportunitäten aufzudecken. Diese ungenutzt zu lassen, ist eben kein (aktives) Portfolio-Management, sondern passive Bewirtschaftung.
Das Geld sollte nicht in die Portfolio-Analyse, sondern in die Verbesserungsmassnahmen fliessen. Werden hier Vorgehensweisen gegeneinander ausgespielt?
Analysen führen bekannterweise noch nicht zu Verbesserungen, aber ohne sie kann die Verbesserung nicht gezielt eingeleitet werden. Sie müssen umfassend und aussagekräftig genug sein; Mikromanagement in dieser Phase halte ich aber für die falsche Flughöhe.
Interview: Remi Buchschacher
Leitfaden schafft Transparenz
Als gewichtiger CO2-Emittent und Energiekonsument steht die Immobilienbranche vor einer dringend notwendigen, nachhaltigen Transformation. An Instrumenten, mit welchen die verschiedenen Herausforderungen angegangen werden können, mangelt es hingegen nicht. Im Gegenteil, die Auswahl an entsprechenden Standards ist äusserst divers. Hierbei die Übersicht zu behalten ist nicht immer einfach, sodass eine zielführende Einordnung dieser Standards besonders wichtig ist.
Mit dem Leitfaden «Nachhaltigkeits-Standards für Immobilien», welchen Elvira Bieri zusammen mit weiteren Standard-Eignern erstellt hat, wird hier nun Abhilfe geschaffen. Mittels einer Gegenüberstellung der gängigsten Nachhaltigkeitsstandards für den Schweizer Immobilienmarkt, wird den Akteuren eine wichtige Orientierungs- und Entscheidungshilfe in die Hand gegeben. Die Einordnung erfolgt dabei in Bezug auf den Zweck, das Konzept sowie auch bezüglich Aufwand respektive Kosten. Mit der «Landkarte Standards und Labels» existiert zudem bereits ein analoges Papier für die nachhaltigen Bau-Standards.
Der Leitfaden für Bestandsgebäude führt Immobilieneigentümer durch den Entscheidungsprozess und unterstützt, in Abhängigkeit der spezifischen Ausgangslage und Zielsetzung, bei der Wahl des richtigen Instruments. Ausschlaggebend für die Wahl des geeigneten Standards ist dabei stets die individuelle Nachhaltigkeitsstrategie: sie schafft den Rahmen für die Bestandsanalyse, aus welcher schliesslich die Immobilienstrategie abgeleitet wird. Das diesbezügliche, methodische Vorgehen wird im Leitfaden ebenfalls erläutert.
Der Leitfaden kann hier https://mvinvest.ch/de/#downloads kostenlos heruntergeladen werden.