Die Schweizer Zinsswap-Kurve hat in den vergangenen Wochen über alle Laufzeiten hinweg einen überraschenden Rückgang verzeichnet (Abbildung 1). Dies lässt sich primär dadurch erklären, dass nun eine stärkere Lockerung der Geldpolitik eingepreist wird, als dies noch bis zum Vormonat der Fall war. Aktuell wird ein SARON-Satz von 0.85% nach der März-Sitzung im nächsten Jahr eingepreist, was im starken Kontrast zu den Prognosen der Ökonomen steht, die laut Bloomberg-Umfragen mehrheitlich einen Leitzins von 1.0% bis ins nächste Jahr erwarten.
Die Argumentation für einen Leitzins von 1.0% stützt sich auf das Konzept des neutralen Zinssatzes, der als wichtiger Referenzpunkt für die Gestaltung der Geldpolitik gilt. Viele Ökonomen teilen die Ansicht, dass der neutrale Zinssatz bei 0.0% liegt. Daraus resultiert bei einer längerfristigen Inflationserwartung von 1.0% ein nominaler neutraler Zinssatz von 1.0%. Auf diesem Niveau würden sich Sparen und Investieren im Gleichgewicht befinden, sodass die Wirtschaft weder überhitzt noch abgebremst wird.
Ständiges Wechselspiel
Die strukturellen Faktoren weisen seit Jahrzehnten auf einen fallenden Trend für den neutralen Zinssatz hin. Angesichts des aktuellen makroökonomischen Umfelds stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Zinssatz nun höher liegen könnte. Diese Frage ist komplex und nicht einfach zu beantworten, besonders da der neutrale Zinssatz nicht direkt beobachtbar ist. Aufgrund seiner theoretischen Natur sollte zwischen der SNB und dem Markt ein ständiges Wechselspiel stattfinden, bei dem die SNB die Auswirkungen ihrer Zinsanpassungen kontinuierlich evaluiert, und sich schrittweise an den tatsächlichen neutralen Zinssatz annähert, anstatt sich auf einen festen Wert zu fixieren. Eine ständige Kosten-Nutzen-Analyse ist entscheidend.
Überschätzt die SNB den neutralen Zinssatz und bleibt zu restriktiv, werden Deflation, ein starker Franken und eine Dämpfung der Wirtschaftsaktivität als Begleiterscheinungen auftreten. Die angemessene Reaktion darauf wären Zinssenkungen. Wenn die SNB andererseits die Zinsen zu stark senkt und den neutralen Zinssatz unterschätzt, wäre dies von einer höheren Inflation, einer Abschwächung des Frankens und einer Überstimulation der Wirtschaft begleitet. Angesichts der herrschenden Konjunkturschwäche sind die Kosten im ersten Szenario grösser als im zweiten, weshalb die SNB dazu neigen dürfte, weiter unter 1.0% zu senken.
Im zweiten Quartal dieses Jahres zeigte der Schweizer Aussenhandel eine äusserst erfreuliche Entwicklung, was die globale Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz unterstreicht. Allerdings steht dieser Erfolg unter dem Druck eines aufwertenden Schweizer Frankens. Mit den bevorstehenden Lockerungen der Zinspolitik durch die Fed und die EZB könnte dieser Druck wieder zunehmen. Als Gegenmassnahme könnte die SNB präventive Zinssenkungen in Erwägung ziehen. Sollte der Franken in der Folge zu stark abwerten, wäre eine Reaktion mit Devisenverkäufen denkbar. Diese Massnahmen würden es der SNB auch ermöglichen, ihre durch umfangreiche Deviseninterventionen in den letzten Jahren gewachsene Bilanz weiter abzubauen bzw. nicht weiter aufzubauen, um für zukünftige Interventionen eine grössere Flexibilität sicherzustellen.
Wir erwarten im September eine weitere Senkung des Leitzinses. Eine zusätzliche Senkung im Dezember schliessen wir nicht aus. Spätestens nach der März-Sitzung 2025 erwarten wir einen Leitzins von 0.75%.
Burak Er ist Head Research bei der Avobis Group AG.