Totalsanierungen stossen immer häufiger an den Widerstand von Mietern und Quartiervereinen. Doch: «Auch Totalsanierungen lassen sich sozialverträglich umsetzen», sagt Ivo Anghern, Manager Nachhaltigkeit und Digitalisierung bei der Drees & Sommer Schweiz AG. Aber mit jeder neuen Regulierung und Einsprachemöglichkeit steige die Wahrscheinlichkeit von Verzögerungen.
Die Regeldichte und gerichtlichen Einschätzungen nehmen weiter zu. Inwieweit haben solche Entwicklungen Auswirkungen zum Beispiel auf den Aufschub von Sanierungsarbeiten?
Ivo Angehrn: Regulierungen und darauf basierende gerichtliche Anfechtungen können bedeutende Verzögerungen bei Sanierungsprojekten verursachen, einfach aufgrund der zeitlichen Dimension. Dies ist grundsätzlich nichts Neues und ein Grundprinzip unseres Rechtstaats. Aber mit jeder neuen Regulierung und Einsprachemöglichkeit steigt die Wahrscheinlichkeit von Verzögerungen. Die durchschnittliche Zeit zwischen dem Entscheid und der Realisierung von Projekten erhöht sich dadurch. Diese Effekte führen zu Unsicherheiten bei den Investoren, da lange nicht klar ist, ob geplante Investitionen effektiv ausgelöst oder umgeschichtet werden müssen.
Zunehmende Regulierungen entwerten Renditeliegenschaften und bremsen energetische Sanierungen. Entsteht hier ein Konflikt mit den Nachhaltigkeitszielen?
Hier besteht ein direkter Konflikt. Die Klimaziele der Schweiz erfordern eine beschleunigte Sanierung. Dies führt angesichts der beschränkten Kapazitäten und Fachkräfte im Bausektor zu einem Sanierungsstau. Im Schnitt müsste sich die Sanierungsrate in der Schweiz mehr als verdoppeln, um die definierten Klimaziele bis 2050 zu erreichen. Die Regulierungsdichte bremst zusätzlich. Es ist aber nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein inhaltlicher Konflikt. Vorschriften für Sanierungsprojekte, beispielsweise zu Erdbebensicherheit, Brandschutz, Hindernisfreiheit oder Lärmschutz, wurden in den letzten Jahren verschärft. Dies führt zu erhöhten Investitionskosten für energetische Sanierungsprojekte, was diese aus Renditesicht oft weniger attraktiv als Ersatzneubauten macht. Ersatzneubauten sind aber meist weniger klimaschonend als eine energetische Sanierung, da bei einem Neubau sehr viel graue Energie und indirekte CO2-Emissionen anfallen.
Oft wissen sanierungswillige Bestandshalter nicht, welche Baustoffe im Gebäude sich weiterverwenden oder wiederverwerten lassen. Bei Neubauten ist dieses Problem nicht sehr gross, da ein Katalog der verwendeten Materialien besteht. Wie sieht es bei Sanierungen aus?
Der grösste Hebel für die Wiederverwendung im Bestand ist der Erhalt der Primärstrukturen (Fundament, Tragstruktur, Geschossdecken). Diese sind, wenn immer möglich zu erhalten, anstatt das komplette Gebäude einfach abzureissen. Hier machen es sich viele Bestandshalter noch zu einfach. Dabei sind gerade in der Schweiz viele Primärstrukturen für sehr lange Lebensdauern ausgelegt.
Sollen die ambitionierten Klimaschutz-Ziele für die nächsten rund zweieinhalb Jahrzehnte erreicht werden, führt kein Weg daran vorbei, bestehende Wohngebäude zu sanieren. Doch Totalsanierungen stossen immer häufiger an den Widerstand von Mietern und Quartiervereinen. Was lässt sich tun?
Auch Totalsanierungen lassen sich sozialverträglich umsetzen. Wichtig sind hier drei Punkte. Zunächst einmal Austausch und Partizipation mit den Mietenden und Quartiervereinen von einem frühen Planungsstadium an. Wenn die Betroffenen die Möglichkeit haben, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, sinkt das Risiko von Einsprachen. Der zweite Punkt ist ein gesamtheitlicher, nachhaltiger Projektansatz, welcher wirtschaftliche, soziale und ökologische Zielsetzungen gleichermassen berücksichtigt. Wenn ausschliesslich wirtschaftliche Kriterien ein Sanierungsprojekt definieren, dann ist ein Konflikt mit Betroffenen oft vorprogrammiert. Der dritte Punkt sind Einnahmenverluste durch Leerkündigungen. Falls diese durch eine Sanierung im bewohnten Zustand vermieden werden können, hat dies einen sehr positiven Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit des Sanierungsprojekts.
Einige Kantone haben sogar Gesetze erlassen, um Mieter vor Leerkündigungen zu schützen. Dies mit der Folge, dass jegliche Investitionen in Mietwohnraum finanziell unattraktiv werden. So etwa die Wohnbaugesetze in den Kantonen Genf und Basel-Stadt. Sanierung, Umbau und Neubau unterstehen dort einer Bewilligungspflicht mit anschliessendem Mietendeckel.
Beim Telli-Areal in Aarau haben wir 581 Wohnungen saniert. Hier konnten wir zeigen, dass auch eine Sanierung mit grosser Eingriffstiefe im bewohnten Zustand erfolgen kann, ohne die Rentabilität ausser Acht zu lassen. Natürlich ist das nicht in jedem Projekt direkt kopierbar. Aber die Kombination aus wirtschaftlichen und nachhaltigen Zielsetzungen sowie die Anwendung von digitalen und lean-Ansätzen in der Planung, im Baumanagement und in der Baulogistik können jedem Eigentümer helfen, auch unter restriktiven Gesetzen seine Sanierungsprojekte erfolgreich umzusetzen.
Das Raumplanungsgesetz schreibt ein Siedlungswachstum nach innen vor, also Verdichtung. Dies ist aus ökologischer Sicht sinnvoll, da unbebaute Landschaften geschützt und CO2-Emissionen durch Mobilität eingespart werden können. Diese scheitern aber oft. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Grundsätzlich erfolgt aktuell sehr wohl eine Verdichtung nach innen. Primär werden dafür bereits eingezonte Flächen innerhalb der bestehenden Siedlungsräume genutzt. Verdichtet man auf bereits genutzten Parzellen, ist es oft nur eine Quasi-Verdichtung. Beispielsweise wird ein kleines Einfamilienhaus durch ein grösseres ersetzt oder Mehrfamilienhäuser mit kleinen Wohnungen werden durch einen Ersatzneubau mit grösseren Wohnungen substituiert. Aus Nachhaltigkeitssicht ist dies zu bedauern. Nur wenn auf der gleichen Bodenfläche mehr Personen wohnen oder arbeiten als vorher, kann das raumplanerische Verdichtungsziel als erreicht gelten. Um dahin zu kommen, ist allerdings noch ein weiter Weg zu gehen.
Starke Mieterhöhungen reduzieren die Akzeptanz von Verdichtungen in den Städten erheblich. Heisst das mit anderen Worten: Verdichten Investoren nachhaltig und mit moderaten Mietzinserhöhungen, müssen sie mit weniger Einsprachen rechnen?
Grundsätzlich würde ich dieser Aussage zustimmen. Allerdings müssen dafür auch die Investitionen beschränkt bleiben. Damit sind wir wieder bei der Vielzahl von Regulierungen, welche auch „einfache“ energetische Sanierungen verteuern.
In sogenannten «Stadtentwicklungsverträgen» könnte der Staat für einzelne Parzellen gewisse zonenrechtliche Beschränkungen lockern, wenn dadurch preisgünstiger Wohnraum geschaffen wird. Mit einem solchen flexiblen Instrument könnte auch besser auf die Bedürfnisse einzelner Investoren Rücksicht genommen werden. Also noch mehr Regulierung?
Ich bin kein Freund von solchen Einzellösungen. Der administrative Aufwand ist auf beiden Seiten beträchtlich und die unsicheren Erfolgsaussichten machen das Modell für die Investoren und Entwickler nicht gerade attraktiv. Meiner Meinung nach sollte sich der Staat darauf konzentrieren, die Rahmenbedingungen für alle so zu gestalten, dass erwünschtes Handeln gefördert wird. Also bitte lieber das bewährte Instrument der Bau- und Zonenordnungen nutzen und im Hinblick auf nachhaltiges, sozialverträgliches und verdichtetes Sanieren besser ausgestalten. Zudem könnte man einzelne Regulierungen, welche für Neubauten und Totalrenovationen gelten, bei energetischen Sanierungen zugunsten des Klimaschutzes aussetzen. So würde die Attraktivität von nachhaltigen Sanierungen für alle erhöht und die Planungs- und Baukosten würden dabei sogar gesenkt.
Interview: Remi Buchschacher