Einkaufszentren werden immer öfter ausserhalb der Ortskerne geschaffen – eine Tendenz, die sich in den letzten Jahren vermehrt abzeichnet. Darunter leiden die Innenstädte, wie das Beispiel der Zürcher Bahnhofstrasse zeigt. Grundeigentümer in den Ortszentren könnten aber etwas dagegen tun, sagt Michel Keller, Geschäftsführer der Centerio AG. Anstelle des Leerstandes in den Erdgeschossen sollten sie günstigere Mieten in Kauf nehmen und damit lokalen Anbietern eine Chance geben.

Eine schwindende Zahl an Retailern, wachsende Online-Konkurrenz und die Teuerung machen neue Konzepte in Shoppingcentern gefragter denn je. Wie sehen vor diesem Hintergrund die Perspektiven für das Jahr 2023 aus?

Michel Keller: Auch wenn in der Welt der Shopping-Center ein etwas rauerer Wind weht, haben wir in den ersten Monaten dieses Jahres einen soliden Start gesehen. Vor allem die kleineren und mittelgrossen Shopping-Center ausserhalb der Städte machen sich gut. Es braucht immer bessere und ausgeklügeltere Kundenerlebnisse, um sich vom Online-Shopping abheben zu können. Gewinner sind hier ganz klar jene Marken, die in ihre Filialen investieren. Wir rechnen damit, dass «unsere» Center das Vorjahresniveau halten werden.

Eine durchdachte Nutzungsmischung macht Shoppingcenter und deren Umgebung attraktiver, denn nur zum Einkaufen kommen die Besucher in Zeiten wachsender Online-Umsätze nicht mehr. Wie lässt sich diese erreichen?

Es braucht ein relevantes Angebot für die Menschen, die in der Umgebung wohnen. Relevanz erreichen wir nicht nur durch ein Shopping-Angebot, sondern auch durch das Anbieten von Dienstleistungen für das tägliche Leben. Das können Angebote für die Gesundheit sein mit Ärzten, Physiotherapien oder Fitness-Centern, das können Angebote für Familien mit Kindern sein wie zum Beispiel Spielmöglichkeiten oder es können auch verschiedene Formen von Verpflegung sein wie Restaurants, Fast und Convenience Food. Zudem sollte im Center immer etwas laufen – seien das saisonale Aktivitäten oder wechselnde «Schnäppchen»-Angebote der Detailhändler.

Wir sehen in Zürichs Innenstadt mit dem Wegfall von Manor und Jelmoli eine erhebliche Veränderung der Retailflächen und auch der Vielfalt des Angebotes. Bedeutet das nun ein Revival für die Shoppingcenter in der Agglomeration oder in kleineren Städten?

Es führen immer verschiedene Faktoren dazu, dass ein Shopping-Center nicht (mehr) rentiert. Grössere Einkäufe wie beispielsweise Möbel wurden schon immer gerne an Orten getätigt, wo man einfach mit dem Auto hinfahren kann – das ist üblicherweise nicht im Stadtzentrum. Aber es stimmt natürlich: In den letzten Jahren sind wieder mehr Menschen aufs Land gezogen. Mit der Möglichkeit zum Home-Office bleiben sie dann auch gleich in der näheren Umgebung, wenn es ums Einkaufen geht. Einfach gesagt werden Shopping-Center dort gebaut, wo Menschen sind – also durchaus auch ausserhalb von grossen Stadtkernen.

Unter dem Strich verringerte sich die Anzahl der Filialen der Retailketten über alle Branchen hinweg in den Ortszentren seit 2019 um 2,9 Prozent. Gleichzeitig nahm die Anzahl Filialen ausserhalb der Ortszentren um 3,7 Prozent zu. Führt diese Verschiebung weg von den Ortszentren nicht zu grossen Herausforderungen?

Effektiv werden immer öfter Zentren etwas ausserhalb der Ortskerne geschaffen – häufig am Stadtrand, in einer Industriezone, aber nicht weit weg vom Zentrum. Das hat den Vorteil, dass alles zusammen an einem Ort eingekauft werden kann. Für viele Menschen ist das komfortabler, hat aber auch den Nachteil, dass man ÖV, Fahrrad oder Auto braucht, und dass dadurch die Ortszentren konkurrenziert werden und tendenziell veröden. Für die Ortszentren brauchen wir neue Konzepte, beispielsweise eine koordinierte Bewirtschaftung aller Erdgeschossflächen in einer bestimmten Zone. Mit solchen «kuratierten Konzepten» im Sinne der «15-Minuten-Stadt» können Zentren von kleineren und mittleren Städten wieder an Attraktivität gewinnen. Diese Gemeinden müssen sich aber auch überlegen, welche Retail-Nutzungen sie im Zonenplan im gewerblichen Bereich ansiedeln wollen, weil damit auch das Kleingewerbe konkurrenziert wird. Die Grundeigentümer in den Ortszentren können ihren Beitrag leisten, indem sie von der fixen Idee des umsatzstarken Erdgeschosses wegkommen und anstelle des Leerstandes günstigere Mieten in Kauf nehmen und damit lokalen Anbietern eine Chance geben.

Der Onlinehandel konnte 2022 die hohen Wachstumsraten der beiden Vorjahre nicht übertreffen, die Umsätze blieben jedoch auf hohem Niveau. Wie stark konkurrenziert er den stationären Handel noch?

Es gibt beides: den typischen Online-Kunden und den, der gerne in den Laden geht. Ich erwarte hier künftig keine grossen Verschiebungen mehr und bin überzeugt, dass sich das Verhältnis zwischen on- und offline auf dem heutigen Niveau einpendeln wird. Einige Menschen wollen weiterhin etwas erleben beim Einkaufen und sie schätzen den Kontakt mit anderen Menschen, weshalb sie auch künftig in den Laden gehen. Andere wollen möglichst alles schnell und von zu Hause aus erledigen. Für beide hat es Platz und für beide hat es Angebot.

Überraschend ist, dass den Retail-Immobilien in der Schweiz bisher in der öffentlichen Diskussion nur wenig Aufmerksamkeit zum Thema ESG geschenkt wird. Die Shoppingcenter in der Schweiz sind im Durchschnitt rund 30 Jahre alt und nur wenige wurden bisher umfassend saniert.

Das stimmt nur zum Teil. In den letzten Jahren wurde durchaus einiges in Shopping-Center investiert, sowohl von den Eigentümern wie auch von den Retailern. LED-Beleuchtung, Photovoltaik auf dem Dach oder auch effizientere Heizungen gehören inzwischen fast überall zum Standard. Allerdings ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Retail-Branche in den letzten Jahren ziemlich unter Druck stand. Dadurch war die Investitionsbereitschaft etwas weniger ausgeprägt, als sie das hätte sein sollen. Mit dem zunehmenden Druck auf die Energiepreise wird sich das in Zukunft rascher zum Positiven entwickeln.

Die Buchstaben «S für Social» und «G für Governance» (verantwortungsvolle Unternehmensführung) werden bisher eher stiefmütterlich in Bezug auf Retail-Immobilien diskutiert. Woran liegt das?

Es ist tatsächlich nicht nur bei Retail-Immobilien, sondern bei Immobilien generell so, dass das «E» meistens im Vordergrund steht. Das hängt damit zusammen, dass dieser Aspekt viel einfacher messbar ist, zum Beispiel anhand des Energieverbrauchs und der grauen Energie der Baumassnahmen. Die anderen beiden Aspekte sind etwas schwieriger messbar. Aber es ist klar, in welche Richtung es gehen muss, beispielsweise im gesellschaftlichen Bereich: Retail-Immobilien müssen ein gut auch fussläufig erreichbares, breites Angebot für viele Zielgruppen bieten. Viel diskutiert wird das aktuell noch nicht, das stimmt. Ich glaube, dass das mit der Umbruchsituation der ganzen Branche zusammenhängt. Der Mix von online und stationärem Angebot muss sich erst etablieren. Wieviel Fläche braucht es in Zukunft, wo und wie ausgebaut und mit welchen Anbietern – das entwickelt sich aktuell schnell. Ich bin überzeugt, dass die ESG-Themen vermehrt in den Vordergrund rücken, sobald sich der tatsächliche Bedarf an Retail-Immobilien klarer herauskristallisiert hat. Aus Sicht von Centerio und Avobis setzen wir alles daran, das «S» und das «G» in der Zusammenarbeit umzusetzen: mit fairen Verträgen und einer guten Leistung für unsere Partner. Das prüfen wir auch mit regelmässigen Umfragen.

Die Nutzungen im Gebäude und im Aussenbereich sollten räumlich und inhaltlich miteinander strategisch kombiniert und verbunden werden, damit attraktive Konzepte entstehen, die voneinander profitieren. Oftmals sind die Flächen seitens der Immobilieninvestoren dafür allerdings nicht entsprechend ausgelegt worden. Woran liegt das?

Ja, das ist wahr – oftmals wurde einer aktiven Begegnungszone oder einer individuell einsetzbaren Fläche beim Bau keine oder nur wenig Beachtung geschenkt. Seit es für Einkaufscenter jedoch nicht mehr reicht, nur noch Shopping anzubieten und die Kundinnen und Kunden nach einem kompletten Entertainment-Angebot verlangen, sind Investoren offener für solche – ich nenne es mal – Marketingangebote, welche die Menschen anziehen. In unseren Centern organisieren wir immer wieder Events, es braucht immer wieder etwas Neues. Im Lenzopark in Staufen beispielsweise machen wir jährlich ein grosses Herbstfest mit Coca-Cola-Truck, im Centre Cristal in Martigny kommt Harry Potter mit einem grossen Auftritt, beim Hornbach in Sirnach haben wir zur Eröffnung einen Rettungstag mit Polizei, Feuerwehr, Samariterverein und Kinderaktivitäten angeboten. So schaffen wir es, Kundinnen und Kunden in unsere Center zu bringen.

Für 2023 planen 80 Prozent der Unternehmensleiter eine Ausdehnung der Verkaufsflächen, wie eine Umfrage von Fuhrer & Hotz ergab. Damit liegt dieser Wert zum dritten Mal in Folge auf einem sehr hohen Niveau. Wie ordnen Sie das ein?

Viele Retailer glauben an den stationären Handel. Sie waren zwar in den letzten rund drei Jahren auf einer Achterbahnfahrt, was die Umsätze betrifft, aber diese Situation hat sich jetzt etwas beruhigt. Der Online-Handel stagniert und die Anteile verschieben sich nicht mehr so dramatisch in eine Richtung. Der Ausblick ist also durchaus positiv für den stationären Handel.

Michel Keller ist Geschäftsführer der auf die Vermarktung und Bewirtschaftung von Gewerbe- und Detailhandelsimmobilien spezialisierten Centerio AG. Centerio ist seit September 2021 Teil der Avobis Gruppe.