Im Rahmen einer CUREM-Masterthesis erforschte Sabrina Schenk, Senior Key Account Manager bei Wincasa, den heutigen Umgang mit grauer Energie bei Neubauten und Gesamtsanierungen durch institutionelle Immobilieneigentümer. Im Zentrum stand die Definition einer geeigneten Vorgehensweise für den Umgang mit grauer Energie während der Erstellungsphase.
Sie haben in Ihrer Abschlussarbeit für den MAS bei CUREM untersucht, inwiefern die graue Energie bei Totalsanierungen und Neubauten durch institutionelle Immobilieneigentümer heute berücksichtigt wird und wie sie auf dem Weg zu Netto-Null Emissionen im Portfolio optimal beurteilt werden kann. Wie lautet Ihr Fazit?
Sabrina Schenk: Gerade im Hinblick auf die Erreichung der nationalen wie globalen Klimaziele ist der bedeutende Beitrag des Gebäudesektors am jährlichen Treibhausgas-Ausstoss in der Schweiz unbestritten. Die dabei geführte hauptsächliche Diskussion um die Treibhausgasemissionen aus dem Betriebsenergieaufwand fokussiert aufgrund des regressiven relativen Anteils am Gesamtenergieverbrauch auf die Frage, wie Optimierungen im Bereich der grauen Energie nachhaltig gelingen können.
Und wie können diese Optimierungen gelingen?
Die Sensibilität der institutionellen Immobilieneigentümer in Bezug auf den Umgang mit der Erstellungsenergie ist durchaus vorhanden. Grund dafür dürfte mitunter der wachsende Druck der Anleger sein, die ein aktives Risikomanagement fordern. Allerdings ist deren Stellenwert unterschiedlich stark gewichtet. Viele Institutionelle sind jedoch noch intensiv mit der ausschliesslichen Optimierung der Betriebsenergie beschäftigt und richten ihren Fokus auf andere Kernthemen. Neben den ökologischen Anforderungen muss ein nachhaltiges Gebäude die ebenso hohen Ansprüche von Gesellschaft und Wirtschaft erfüllen. In diesem Spannungsfeld sind Zielkonflikte richtig zu interpretieren und die entsprechenden Schwerpunkte zu setzen. Auch wenn durch den Ersatzneubau wertvolle graue Energie in der bestehenden Gebäudesubstanz vernichtet wird, kann es gerade an städtischen Lagen aus wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Sicht sinnvoll sein, einen nachhaltigen Ersatzneubau zu realisieren.
Wo bestehen die grössten Herausforderungen?
Gegenwärtig liegen die grössten Herausforderungen in der Ressourcentransparenz und im Datenmanagement. Um die grossen Einflussfaktoren zu identifizieren und gezielte Massnahmen abzuleiten, mangelt es in vielen Organisationen nach wie vor an ausreichend Sensibilität und folglich an entsprechendem Know-how. Mein Arbeitgeber, Wincasa AG, hat hier bereits einige Weichen richtiggestellt, um die institutionellen Anleger passend zu begleiten auf ihrem Weg die entsprechenden Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Wie fliesst die Beurteilung der grauen Energie, als Bestandteil einer gesamtheitlichen Nachhaltigkeitsbetrachtung, in die heutige Projektierung und Entscheidungsfindung bei Gebäudesanierungen und Neubauten durch institutionelle Immobilieneigentümer ein?
Jene Eigentümer, die der Thematik bewusst Aufmerksamkeit schenken, haben entsprechende Anforderungen in ihren Baurichtlinien verankert. Richtungsweisende Entscheidungen werden in der frühen strategischen Planung gefällt und phasenweise adaptiert. Im Zentrum stehen dabei die Bauweise und die Materialisierung. Gleichzeitig beschäftigen sie sich mit dem Aufbau kreislauffähiger Konzepte zur schrittweisen Integration – sowohl in Um- wie auch in Neubauten. Eine quantitative Erfassung der grauen Energiedaten findet, wenn dann ausschliesslich im Rahmen von Gebäudezertifizierungen im Neubau statt.
Und wenn nicht?
Wird weder eine aktive noch eine passive Erfassung indirekter Energie vorgenommen, liegt der Fokus auf der alleinigen Verbesserung der Energieeffizienz im Betrieb. Dennoch sind sich schon viele der institutionellen Eigentümer bewusst, dass graue Energie zur Netto-Null-Strategie dazugehört. Dessen werden sie heute mit einem qualitativen Ansatz gerecht, indem sie unter anderem strengere Anforderungen an den Ressourcenverbrauch und die Materialisierung stellen.
Bisher galt das Augenmerk ja hauptsächlich auf den Treibhausgasemissionen aus dem Betriebsenergieaufwand. Diese sind auch gut messbar und deren Ausweis wird in den neuen AMAS und REIDA-Richtlinien verlangt. Doch die Optimierung im Bereich der grauen Energie findet bisher keinen Eingang in die Berechnung dieser Richtlinien.
Eine quantitative Nachweisbarkeit der grauen Energie ist in der Praxis eine enorme Herausforderung. Sie verlangt eine klare Trennung zwischen den Immobilien im Bestand und Neubauten. So weit ist man heute noch nicht. Es fehlen einheitliche Rahmenbedingungen und Systeme, die zuverlässige und vergleichbare Resultate liefern können. Erschwert wird die Vergleichbarkeit durch die hohe Spezifikation der verschiedenen Bauten. Es ist daher sehr komplex, die quantitative Erfassung auf die graue Energie auszudehnen. Im SIA-Merkblatt 2040:2017 sind Zielwerte festgehalten, aber Referenzwerte, die wichtig wären um einen Vergleich mit anderen ermöglichen, fehlen. Eine Einstufung, mit welcher Bauweise welche Möglichkeiten bestehen, ist heute schwierig.
Wie kann das Verständnis für diese Referenzwerte geweckt werden?
Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes empfiehlt es sich, insbesondere im Umgang mit dem Immobilienbestand, qualitative Grundsätze für die Erfassung von grauen Energiedaten zu etablieren und ein einheitliches Verständnis im Schweizer Immobilienmarkt zu schaffen. Die quantitative Beurteilung im Neubau verlangt indes eine Überarbeitung der methodischen Vorgehensweise. Von grossem Interesse ist die Integration der Kreislaufwirtschaft in die Ökobilanz und die Abbildung der Speicherfähigkeit der Materialien.
Wie unterscheiden sich die heutigen Vorgehensweisen zwischen den unterschiedlichen institutionellen Immobilieneigentümern und wo besteht das grösste Potenzial?
Die Vorgehensweise lässt sich nicht verallgemeinern und es ist kein Rückschluss auf die Eigentümerstruktur nachweisbar. Vielmehr steht die Einräumung des Stellenwerts sowie die bewusste Auseinandersetzung mit der grauen Energie in Beziehung mit der Intensität der allgemeinen Identifikation mit dem Thema Nachhaltigkeit.
Und wie präsentiert sich diese Identifikation?
Im Neubau liegen die Entwicklungsmöglichkeiten zur Energieeinsparung vordergründig in der Wiederverwendung und Reparierbarkeit der Bauteile. Zusätzliches Potenzial birgt der Bereich Low-Tech. Bei Gebäudesanierungen liegt der grosse Hebel bei der Weiterverwendung der bestehenden Tragstruktur. Hierfür ist die Optimierung der Datengrundlage von eminenter Bedeutung. Dies ermöglicht Planern wiederum, auf diesen Bausteinen sowie unter Beizug von Umweltproduktdeklarationen, ihre Entscheidungen zu treffen. Es braucht keine neuen Bestimmungen: In den vorhandenen Richtlinien und Merkblätter zur grauen Energie ist das Vorgehen bei der Berechnung ausführlich beschrieben.
Was braucht es dann?
Um hinsichtlich CO2-Reduktion auf lange Sicht wettbewerbsfähig zu sein, bedarf es innovativer und nachhaltiger Lösungen. Grosse Herausforderungen sind die Kompetenz und das Bewusstsein, den Architektinnen und Architekten die richtigen Fragen zu stellen. Es braucht die Sensibilität des Bauherrn, um qualifizierte Gespräche führen zu können. Planende wiederum müssen konzeptionell die richtigen Gedanken verfolgen. Wer der grauen Energie im Planungsprozess Aufmerksamkeit schenkt und qualitative Ansätze prüft, macht bereits vieles richtig.
Anhand welcher Massnahmen kann die graue Energie im Bau- und Sanierungsprozess erfolgreich reduziert werden?
Die Überlegungen für eine gesamtenergetisch optimierte Bauweise beginnt auf strategischer Stufe mit dem übergeordneten Grundsatzentscheid ob Ersatzneubau oder Gesamtsanierung. Durch die Nutzung der bestehenden Gebäudestruktur in Zusammenhang mit der Materialwahl und -menge sowie deren Wiederverwendbarkeit kann der Primärenergieaufwand deutlich reduziert werden. Auf das Bauen in den Grund sollte weitgehend verzichtet werden. Eigenschaften wie eine hohe Flächeneffizienz, flexible Strukturen, Adaptierbarkeit sowie eine lange Lebensdauer fördern die Energiebilanz ebenfalls positiv. Generell sind auf Basis der gebäudespezifischen Ausgangslage Schwerpunkte hinsichtlich Nachhaltigkeit zu formulieren. Insbesondere in Bezug auf den Technisierungsgrad und den angestrebten Ausbauzustand können sich Zielkonflikte zwischen den drei Dimensionen ergeben. Die Abhängigkeit der äusseren Einflüsse und Rahmenbedingungen verlangt letzten Endes bei jedem Gebäude eine ganzheitliche Betrachtung im individuellen Kontext.
Obschon die graue Energie zunehmend thematisiert wird, konzentriert sich das öffentliche Interesse weitgehend auf die Optimierung im Betrieb. Wird zu wenig geforscht in dieser Richtung?
Im Gegenteil. Das Thema ist grundsätzlich nicht neu. Gerade im Bereich der Materialisierung wird unglaublich viel Forschung betrieben. Der relative Einflussgrad der Erstellung wächst mit zunehmender Effizienz im Gebäudebetrieb. Eine ganzheitliche energetische Betrachtung über den gesamten Lebenszyklus einer Immobilie wird dadurch zwangsläufig relevant für eine transparente Beurteilung der Umweltbelastung. Die politische wie mediale Diskussion steuert das Verhalten der institutionellen Immobilieneigentümer mit ihren Botschaften entscheidend. Gefördert wird von Bund und Kantonen primär der Ersatz älterer Gebäude. Denn Neubauten sind im Betrieb deutlich energieeffizienter und ermöglichen hinsichtlich der langfristigen Klimastrategie messbarere Erfolge.
Den Baustandards und Gebäudelabels wird in diesem Zusammenhang eine wichtige Sensibilisierungsfunktion beigemessen. Werden sie der Messung der grauen Energie gerecht?
Im Neubau werden grauenergetische Aspekte bereits in verschiedenen Gebäudezertifikaten ganz oder teilweise berücksichtigt. Wer heute nach SNBS baut, optimiert die graue Energie implizit. Der indirekte Energieaufwand wie auch die Treibhausgasemissionen der Erstellung werden dort mit entsprechenden Tools quantifiziert. Neben dem 2000-Watt-Areal weist auch der ECO-Zusatz bei Minergie-P/-A Bauten auf eine grauenergetisch optimierte Bauweise hin. Bei internationalen Zertifizierungssystemen wie LEED oder DGNB ist die Beurteilung der Erstellungsenergie ebenfalls Bestandteil. Generell besitzen Gebäudelabels hohes Potenzial, das Umdenken weiter voranzutreiben. Sie sorgen dafür, dass ein flächendeckendes Bewusstsein geschaffen wird für die Opportunitäten einer aktiven Auseinandersetzung mit dem gesamten Lebenszyklus der Immobilien.
Um einer adäquaten Vorgehensweise für den Umgang mit grauer Energie während der Erstellungsphase gerecht zu werden, wäre die Abgabe von Handlungsempfehlungen in Form eines Leitfadens wünschenswert. Doch Literatur zum Themenkomplex ist schwer zu finden.
Referenzbeispiele sind heute nur bedingt verfügbar. Obschon sich verschiedene Pilotprojekte in Entwicklung befinden und tolle kreislauffähige Konzepte realisiert werden, lässt sich noch kein idealtypisches Vorgehen ableiten. Erfahrungswerte werden erst gesammelt. Das Umdenken muss nicht nur auf Seite der Investoren, sondern auch in der Politik und Baubranche generell stattfinden. Nur so kann und wird der klimaschonende Weiterbau im Bestand an Bedeutung gewinnen.
Interview: Remi Buchschacher