Die anhaltende Alterung der Gesellschaft und der zuletzt nochmals verstärkte Individualisierungstrend führen zu immer kleineren Haushalten. Die Nachfrage nach Wohnungen wächst damit deutlich schneller als die Bevölkerung, schreibt Raiffeisen Economic Research in der neusten Immobilienstudie. Werden jetzt nicht umgehend Schritte eingeleitet, um das Wohnungsangebot zu erhöhen, droht der Schweiz nach Jahren erhöhter Leerstände innert weniger Jahre Wohnungsnot.
Dass die Zahl der Haushalte schneller wächst als die Bevölkerung, ist nichts Neues. Die durchschnittliche Haushaltsgrösse sinkt schliesslich schon seit Jahrzehnten. Wohnten im Jahr 1965 noch fast 4.4 Personen in einem Haushalt, sind es heute nicht einmal mehr die Hälfte. Ab 2018 ist aber durch ein beschleunigtes Absinken der mittleren Haushaltsgrösse eine Schere zwischen den beiden Wachstumsraten aufgegangen. 2020 wuchs die Zahl der Haushalte mit 1.45% fast doppelt so schnell wie die Bevölkerung (0.75%). Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass Haushaltsverkleinerungen 2019 erstmals der grösste Treiber des Haushaltswachstums in der Schweiz waren. Auch im Jahr 2020, das letzte Jahr, für das offizielle Zahlen verfügbar sind, war die Haushaltsverkleinerung Treiber Nummer 1 des Anstiegs der Zahl der Haushalte. Über 26’000 zusätzliche Haushalte bildeten sich aufgrund der Verringerung der durchschnittlichen Haushaltsgrösse (Beitrag am gesamten Anstieg: 48%). Die Zuwanderung, im Einwanderungsland Schweiz traditionell als der mit Abstand bedeutendste Faktor der Haushaltsbildung, trug dagegen nur etwa 24’500 neue Haushalte bei (Beitrag: 44%). 4500 neue Haushalte resultierten 2020 aus dem Geburtenüberschuss (Beitrag: 8%). Das inländische Bevölkerungswachstum fiel damit 2020 aufgrund der Übersterblichkeit während der Coronapandemie vergleichsweise klein aus. Normalerweise trug der Geburtenüberschuss in den letzten Jahren mit etwa einer doppelt so grossen Zahl zur Haushaltsbildung bei, war aber auch damit jeweils ein eher bescheidender Treiber des Haushaltswachstums.
Wohnungsnachfrage
Aus der mittels dieser demografischen Analyse errechneten Zahl der neuen Haushalte lässt sich unmittelbar die Zusatznachfrage der Haushalte nach Wohnungen ableiten. Denn jeder neue Haushalt bewohnt jeweils eine zusätzliche Wohnung. Unter Annahme konstanter Zuwanderung werden den Prognosen von Raiffeisen zufolge im Jahr 2022 51’000 zusätzliche Wohnungen nachgefragt. Für das Jahr 2023 ergibt sich mit etwas mehr als 48’000 eine leicht tiefere, aber immer noch sehr hohe Wohnungsnachfrage. Etwaige Auswirkungen der Flüchtlingsbewegungen in Folge des Krieges in der Ukraine sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt.
Die Alterung der Gesellschaft führt ökonomisch gesehen zu einer ineffizienten Verteilung bereits bestehender Wohnungen. Denn je älter Menschen werden, desto mehr Platz belegen sie paradoxerweise. Senioren wohnen im Schnitt eher in für ihre Haushaltsgrösse zu grossen Wohnungen. Dies weil sie jeweils kaum umziehen. Ältere Eigentümer haben in der Regel eine emotionale und soziale Bindung zu ihren eigenen vier Wänden und deren Standort, finden angesichts des dünnen Angebots keinen passenden Ersatz, möchten ihr Eigenheim an die Nachkommen vererben und/oder sehen die eigenen vier Wände auch als Geldanlage. Auch ältere Mieter zügeln nur selten, denn für eine kleinere Mietwohnung müssten sie in der Regel wegen jahrelang gestiegener Mieten sogar mehr bezahlen als für die eigentlich zu grosse Wohnung, in der sie schon länger leben.
Preise disziplinieren Junge
Die Wohnflächennachfrage der jüngeren Altersklassen steigt dagegen schon länger nicht mehr. Der Individualisierungstrend führt also zwar zu mehr Wohnungen pro Person, aber nicht dazu, dass die Menschen mehr Fläche oder mehr Zimmer nachfragen. Die hohen Miet- und Immobilienpreise disziplinieren Käufer und Mieter, sodass bei Haushaltsgründungen die Wohnung der neuen Haushaltsgrösse entsprechend verkleinert wird, der pro Kopf-Quadratmeterverbrauch also eher leicht sinkt. Im Total steigt also lediglich durch die Alterung die Flächennachfrage pro Person, und dies sogar mit beschleunigter Dynamik. Zur beschriebenen, überproportional wachsenden Haushaltszahl gesellt sich folglich eine zusätzliche Flächennachfrage. Doch welches Angebot steht dieser steigenden Nachfrage nach Wohnungen, Zimmern und Flächen gegenüber? Und kann die Immobilienwirtschaft diesen Zusatzbedarf stillen?
Nach wie vor hohe Leerstände
Obwohl die Leerstände 2021 erstmals seit dem Jahr 2008 gesunken sind, liegt das Leerstandniveau in der Schweiz mit einer Leerwohnungsziffer von 1.54% im historischen Vergleich nach wie vor auf einem eher hohen Niveau. Abgesehen von den Vorjahren (2019-2020) lag die Leerwohnungsziffer bisher erst in den Jahren 1996 bis 1999 höher als 2021. Damit stünde ein vermeintlich grosser Puffer an leeren Wohnungen zur Verfügung, um eine weiter steigende Wohnungsnachfrage zu befriedigen.
Die derzeit herrschende Leerstandsituation am Wohnungsmarkt ist die Folge einer längeren Phase der Überproduktion von Wohnungen. Durch das aufkommende Tiefzinsumfeld setzte Ende der 00er-Jahre ein regelrechter Bauboom ein. Mangels Anlagealternativen wurden von institutionellen Anlegern vermehrt Renditeliegenschaften nachgefragt und die Bau- und Immobilienbranche hat diesen Appetit gestillt. Im Jahr 2013 wurde schliesslich der Peak der Bewilligungen für Wohneinheiten erreicht. Ein paar Jahre später erreichte dann auch die effektive Bautätigkeit ihren Höhepunkt. Seitdem hat das Niveau der erteilten Baubewilligungen um mehr als 20% abgenommen. Die daraus folgende geringere Produktion führte, zusammen mit der hohen Nachfrage, zunächst zu einer Abschwächung der Leerstanddynamik seit 2018. Im Jahr 2021 kam es schliesslich sogar zu erstmals wieder leicht sinkenden Leerständen.
Der Wohnungszugang durch Neubauten der nächsten zwei Jahre lässt sich anhand der bis heute erteilten Baubewilligungen bereits jetzt abschätzen. Die Baubewilligungen haben einen durchschnittlichen Vorlauf von rund zwei Jahren auf die Baufertigstellung. So lange dauern nach erteilter Bewilligung im Schnitt die Detailplanung und der anschliessende Bauprozess von Wohnungen. Wurden im Jahr 2018 noch 53’199 Wohnungen in Neubauten erstellt, werden es unseren Prognosen zufolge im Jahr 2023 nur noch rund 41’000 sein. Dies entspricht einem sehr starken Rückgang des Neubauwohnungsbaus um 23% innert fünf Jahren.
Umbau und Abbrüche
Im Zuge der laufenden Verdichtung werden vermehrt bestehende Wohnungen abgerissen, um Platz für Ersatzneubauten mit höherer baulicher Dichte zu schaffen. Diese aufgelösten Wohnungen müssen vom Brutto-Neu- bau abgezogen werden. Zudem entstehen wegen raum- planerischer Vorgaben immer mehr Wohnungen durch Aufstocken und Umbauten. Schreibt man diese beiden Trends fort, kann der Nettozugang an neuen Wohnungen der nächsten zwei Jahren prognostiziert werden. 2022 werden demnach 46’666 Wohnungen netto dazu kommen, 2023 noch 46’382. Das sind 19% weniger als im Jahr 2018.
Stellt man den Nettozugang den neuen Haushalten gegenüber, zeigt sich, dass im laufenden und kommenden Jahr deutlich weniger neue Wohnungen gebaut als nach- gefragt werden. 2022 erwarten wir daher einen weiteren Rückgang der Leerstandziffer. Anhand der Inserate lässt sich das Leerstandniveau jeweils einigermassen zuverlässig prognostizieren. Die Anzahl derzeit ausstehender Inserate zeigt den erwarteten Rückgang der Leerwohnungsziffer ebenfalls bereits an. Für die nächste Erhebung rechnen wir mit einer Leerwohnungsziffer von 1.3%. Im Jahr 2023 dürfte die LWZ dann sogar auf 1.2% fallen.
Aus Überangebot wird Knappheit
Ein gesunder Wohnungsmarkt benötigt ein gewisses flüssiges Angebot, um reibungslos zu funktionieren. Steigt der Leerstand über dieses sogenannt «neutrale Niveau», sinken in der Regel die Mieten, fällt er unter dieses Niveau ziehen die Mieten dagegen an. Mit einer Leerwohnungsziffer von unter 1.2% wird das neutrale Leerstandslevel bereits 2023 unter- schritten sein. Die Zeiten von Wohnungsüberangebot sind damit ab nächstem Jahr definitiv vorbei. Und damit wohl auch die Zeiten sinkender Angebotsmieten. Werden jetzt nicht umgehend Schritte für eine grössere Wohnbautätigkeit eingeleitet, dann droht ab 2024 gar Wohnungsknappheit. Angesichts des knappen Gutes Boden und der stockenden Verdichtung wird das Stillen des grossen Hungers nach Wohnungen und zusätzlichen Flächen eine enorme Herausforderung für die Bau- und Immobilienwirtschaft. Dies notabene bereits ohne zusätzliche Impulse durch die Zuwanderung oder die Flüchtlingssituation infolge des Krieges in der Ukraine.