Mit Madaster erhalten Materialien in Gebäuden einen Wert und werden wiederverwendbar. Dies bekräftigen Geschäftsführerin Marloes Fischer und Verwaltungsrat Tobias Achermann. Wie wäre es beispielsweise, wenn ein Hersteller von Baumaterialien oder Gebäuden nicht mehr sein Produkt verkauft, sondern die Nutzung der Funktionalität?

Die Reduzierung von Bauabfällen und eine bessere Verwertung von Baumaterialien und -elementen als Ressourcen ist dringlicher denn je. Eine Wiederverwendung kann laut Bundesamts für Umwelt (BAFU) dazu beitragen, dass das Klimaziel 2050 und die Energiestrategie 2050 erfolgreich umgesetzt werden können. Was kann Madaster dazu beitragen?

Marloes Fischer: Madaster ist eine Cloud-Lösung für die Umsetzung von Kreislaufwirtschaft im Bau- und Immobiliensektor. Der Bausektor verbraucht die meisten Materialien und ist mit über 80 Prozent der grösste Abfallproduzent in der Schweiz. Ziel ist, Verschwendung im Bau- und Immobiliensektor zu vermeiden und die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft umzusetzen. Abfall wird eliminiert und Ressourcen erhalten, indem Materialien eine Identität erhalten. Wenn Materialien eine Identität haben, können sie wiederverwendet werden und landen nicht zwangsläufig nach der ersten Nutzung als Abfall in der Anonymität. Madaster ermöglicht die Planung und Nutzung von Gebäuden als Rohstofflager.

Tobias Achermann: In einer Online-Bibliothek – einer Art Grundbuch – werden Ressourcen relevante Daten von Gebäuden erfasst, strukturiert, und in Materialpässen zur Verfügung gestellt. Mit dem Madaster-Materialpass erhalten Immobilienbesitzer mit Hilfe von Indizes erstmals Transparenz über den finanziellen und kreislaufwirtschaftlichen Wert sowie die Qualität des verbauten Materials. So kann Material bei Ersatz oder einer Umnutzung eines Gebäudes wiederverwendet werden. In der Planungsphase können Gebäude so konzipiert und materialisiert werden, dass eine Wiederverwendung von Materialien, Komponenten und Produkten zu deren höchstmöglichen Wert in der Zukunft ermöglicht wird.

Wiederverwertung gibt es nicht zum Nulltarif. Wie gross ist der Wiederverwertungsaufwand?

MF: Je bewusster gebaut wird, desto geringer wird der Wiederverwertungsaufwand. Bewusst in diesem Sinne bedeutet modular, flexibel und unterhaltsfreundlich. Materialien, Komponenten und Produkte können so mit geringstem Wert- und Funktionsverlust wiederverwendet werden, wenn ein Gebäude umgenutzt werden soll. So ermöglichen trockene Verbindungen eine leichtere Demontierbarkeit und erneute Verwendung. Wenn von der Planung an bekannt und transparent ist, wo welche Materialen, Komponenten und Produkte verbaut sind und welche Qualität und Werte diese haben, sind Entscheidungen über deren Wiederverwendbarkeit leichter zu treffen. Aufwändige Umplanungen oder Demontierungen gehören der Vergangenheit an, die Prozesse werden kürzer, denn alle Beteiligten können über Madaster Zugang zu relevanten, stets aktuellen Daten haben.

Die Schweizer Wirtschaft wird derzeit aber von einem überwiegend linearen Verkaufsmodell dominiert: Produkte werden hergestellt, verwendet und wieder entsorgt. Welche Materialien stehen bei der Wiederverwertung im Bauwesen im Vordergrund?

TA: Im Vordergrund steht zunächst die Idee, ein Gebäude von Anfang an in kompletten Kreisläufen zu denken. Was wird passieren, wenn ein Gebäude das Ende seines Lebenszyklus erreicht hat? Gebäude sollten so konzipiert werden, dass sie von Beginn an entwicklungsfähig sind. Neben einer Flächen- und Ressourcen effizienten Planung sollten Materialien so eingesetzt werden, dass sie die unterschiedlichen Anforderungen eines Gebäudes möglichst flexibel mittragen können. Auf der Materialisierungsebene bedeutet das, naturbelassene und regenerierbare Materialien mit möglichst wenig grauer Energie einzusetzen. In der Schweiz wird bereits heute zunehmend Recycling-Beton eingesetzt. Auch sehen wir, dass das Interesse an Holz und weiteren natürlichen Materialien wie Lehm und Hanf zunimmt.

Das Wirtschaftswachstum ist eng mit dem Verbrauch von Ressourcen verbunden und die Langlebigkeit von Produkten aus der Sicht von Unternehmen ist eher negativ als positiv für deren Umsatz. Diese Philosophie birgt neben enormen Umweltkosten und sozialen Problemen auch politische und wirtschaftliche Risiken. Kann sich die Bauwirtschaft mit der Wiederverwertung unabhängig von anderen Ländern und unkontrollierbaren Preisschwankungen machen?

TA: Wie bereits erwähnt, verbraucht der Bausektor die meisten Materialien in der Schweiz. Gleichzeitig entfallen fast 20 Prozent der Kosten beim Bau eines Gebäudes auf das Material. Damit hat die Branche ein sehr grosses Potenzial für eine nachhaltigere Gebäude- und Gebietsentwicklung, um die Wiederverwendung von Materialien zu erleichtern und Gebäude zu Materialbanken werden zu lassen. Insofern hilft bereits die Wiederverwendung von Materialien, unabhängiger von Preisvolatilität und Engpässen bei der Verfügbarkeit von Baumaterialien zu werden.

MF: Doch richtig unabhängig machen sich Unternehmen erst dann, wenn sie den Mut haben, in komplett neuen Geschäftsmodellen zu denken. Wie wäre es beispielsweise, wenn ein Hersteller von Baumaterialien oder Gebäuden nicht mehr sein Produkt verkauft, sondern die Nutzung der Funktionalität? Das Material oder die Produkte wechseln nicht mehr den Besitzer, sondern bleiben im Eigentum des Herstellers. Dieser macht aus dem Material eine Dienstleistung. Material-as-a-Service heisst dieses Modell, bei dem Hersteller über einen längeren Zeitraum an einem Produkt verdienen. Es ist in seinem eigenen Interesse, über gezielten Unterhalt und angereichertem Knowhow den Wertverfall zu verhindern.

Wird man sich in Zukunft Gebäude als Rohstofflager und Städte als Rohstoffminen vorstellen?

TA: Getreu nach dem Motto des Mitgründers von Madaster, Thomas Rau, «Vordenken statt Nachdenken» sollten bereits heute Gebäude als Rohstofflager und Städte als Rohstoffminen vorgedacht werden. Wir bauen heute für die Zukunft. Wenn wir heute nicht daran denken, entwicklungsfähige Gebäude zu planen, vergeben wir wertvolle Zeit, die wir eigentlich schon längst nicht mehr haben. Wir müssen heute damit beginnen.

Sie haben einen Finanzindex entwickelt, mit dem der Wert von Materialien und Produkten berechnet wird und der einen langfristigen Werterhalt ermöglichen soll. Wird nun die Lebensdauer eines Gebäudes bereits beim Bau festgelegt?

MF: Der Finanzindex auf Madaster zeigt, wie hoch der Wert des im Gebäude verbauten Materials ist. Ausserdem zeigt er eine Schätzung der Kosten für den Rückbau, Transport und Wiederaufbereitung und für die prognostizierte Preisentwicklung in der Zukunft. Das heisst, der Eigentümer hat eine Übersicht des Restwerts und kann anhand dessen besser entscheiden, welche die nachhaltigere Lösung ist: Rückbau, Renovation oder Sanierung.

Weiterhin gibt der Zirkularitätsindex auf Madaster Auskunft über den Grad der Kreislauffähigkeit des Gebäudes. Ein vollständig kreislauffähiges Gebäude besteht aus wiederverwendbaren beziehungsweise wiederverwendeten Materialien, hat eine überdurchschnittliche Lebensdauer und kann schliesslich vollständig demontiert werden. Aus heutiger Perspektive haben wir den Weg dorthin begonnen, das Ziel liegt allerdings noch weit vor uns.

Freiwilligkeit ist gut, doch was wird die Politik unternehmen, um der Kreislaufwirtschaft Vorschub zu leisten?

TA: Kreislaufwirtschaft kommt nun in der Schweizer Politik an. Bis 2030 sollen die CO2-Emissionen um 50 Prozent im Vergleich zum Niveau von 1990 sinken – so die Schweizer Nachhaltigkeitsstrategie.​ Das ist für die Schweizer Bau- und Immobilienbranche eine Herausforderung und grosse Chance zugleich. Die parlamentarische Initiative «Schweizer Kreislaufwirtschaft stärken» schlägt nun mit konkreten Änderungen am Umweltschutzgesetz Massnahmen vor, den Konsum ökologischer zu gestalten, Stoffkreisläufe zu schliessen und dadurch die Umweltbelastung massgeblich zu reduzieren. Darüber hinaus ermöglicht die Überarbeitung des Gesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen einen Wettbewerb über die Nachhaltigkeit und nicht nur über den Preis.

Was braucht es, damit sich Madaster in der Schweiz etablieren kann?

MF: Um die Entwicklung von kreislauffähigen  Gebäuden zu fördern, werden auch digitale Produkt- oder Materialpässe diskutiert. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) unterstützt Madaster Schweiz von Anfang an. Im September soll eine parlamentarische Gruppe für Kreislaufwirtschaft ins Leben gerufen werden, um das Bewusstsein zu schärfen und parlamentarische Initiativen für dieses Thema zu fördern.

Interview: Remi Buchschacher

Marloes Fischer ist für die Vermarktung der Plattform als Geschäftsführerin der Madaster Services Schweiz AG zuständig, Tobias Achermann ist Verwaltungsrat.

Vernetzung zur Kreislaufwirtschaft: Madaster vernetzt die Schweizer Bau- und Immobilienwirtschaft, um Knowhow im digitalen Bauen sowie Erfahrungen zu Materialwerten über den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden auszutauschen und das Potenzial der Schliessung von Wertstoffkreisläufen zu heben. Auf der Online-Plattform können Liegenschaftseigentümer ihre Gebäude registrieren. Produkt- und Materialdaten werden gespeichert und visualisiert. Dieses digitale Dossier macht alle Merkmale von Produkten und Materialien im Gebäude, deren Hersteller sowie ihren Standort transparent. Durch die Anbindung von externen Datenquellen und mithilfe von Datenanalyse-Tools werden diese kategorisierten Daten angereichert und in einem Materialpass zusammengeführt. Er erleichtert auch die Erstellung des obligatorischen Entsorgungskonzepts gemäss Schweizer Abfallverordnung (VVEA), das die ordnungsgemässe Behandlung von Bauabfällen dokumentiert.