Die Sinus-Milieus-Typologie ist eine Gesellschafts- und Zielgruppentypologie. Sie unterteilt die Wohnbevölkerung anhand der sozialen Schicht und der Grundorientierung in zehn Gruppen «Gleichgesinnter». Die verschiedenen Projektbeteiligten hätten aber immer noch regelmässig unterschiedliche Zielgruppen vor Augen, ohne dass sie sich dessen bewusst wären, sagt Marketingspezialist Beny Ruhstaller.
Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise sowie in ihrer sozialen Lage gleichen. Warum brauchen wir Ihrer Meinung nach sozialwissenschaftliche Untersuchungen wie die Sinus-Milieustudien für die Immobilienwirtschaft?
Beny Ruhstaller: In der Zielgruppenbestimmung für Immobilienprojekte ging man in der Vergangenheit relativ rudimentär vor. Es wurde gebaut, was baurechtlich möglich war. Welche Zielgruppe mit dem Projektentwurf angesprochen wurde, interessierte nur am Rand.
Was lässt sich aus der Milieudiagnose ableiten, kann sie der Immobilienwirtschaft als Sehhilfe dienen?
Erfreulicherweise hat in der Immobilienwirtschaft und Projektentwicklung in der Zwischenzeit eine professionelle Zielgruppenbestimmung Einzug gehalten. Das ist nicht zuletzt auf die Marktsituation zurückzuführen, in der nicht mehr jedes Angebot ohne besondere Anstrengung einen Käufer oder Mieter findet. Aber noch immer haben die verschiedenen Projektbeteiligten wie Architekten, Projektentwickler, Eigentümer, Vermarkter, Werber und Bewirtschafter usw. regelmässig unterschiedliche Zielgruppen vor Augen, ohne dass sie sich dessen bewusst wären. Jeder plant, baut und vermarktet nach seinen Vorstellungen. Genau hier setzen die Sinus- Milieus Wohn- und Lebenswelten Schweiz an.
Wie gross ist die Gefahr, dass sie zur Schubladisierung der Menschen als Kunden führt, oder gar zu einer Ideologie wird?
Das Gegenteil ist der Fall! Wir erinnern uns noch gut an die 1970er- und 1980er-Jahre, als grosse uniforme Überbauungen realisiert wurden. Die Sinus-Milieus zeigen gerade auf, dass Menschen unterschiedlich ticken, auch wenn sie auf den ersten Blick der gleichen Gesellschafts- oder Altersgruppe angehören. Die Milieus helfen, diese Gruppen besser zu verstehen und individuell anzusprechen.
Den Klassen- oder Schichtenstudien haftet der Vorwurf an, uns Menschen über einen Kamm zu scheren und einzuteilen. Doch auch innerhalb der Sinus-Milieus sind wir nicht alle gleich.
Diese Befürchtung ist unbegründet, wenn man die Sinus-Milieus Wohn- und Lebenswelten Schweiz als unterstützenden Werkzeugkasten versteht. Dieser liefert auch nicht eine einzige allgemeingültige Lösung für die gestellte Aufgabe, sondern schlägt Milieus vor, die unter den betreffenden Rahmenbedingungen näher zu prüfen sind. Wir empfehlen darum in der Regel, die zwei oder drei relevante Milieus näher zu betrachten. Damit können eben auch gewisse Milieus klar ausgeschlossen werden.
Sämtliche Eigenschaften aus den Befragungen ergeben sich aus statistischen Werten. Entstehen dadurch nicht Stereotypen, welche Milieus übergreifenden Verhaltensweisen nicht gerecht werden?
Jede Produktentwicklung muss von gewissen Annahmen über die potenziellen Kunden, ihre Bedürfnisse und ihr Verhalten ausgehen. Das ist in der Entwicklung eines Immobilienprojekts nicht anders wie im Konsumgüterbereich. Dies erfordert notwendigerweise die Bildung von Kundengruppen. Die Sinus-Milieus helfen, diese Gruppen besser zu verstehen. Interessant zu sehen ist, dass damit der Auftraggeber und Auftragnehmer bei der Zielgruppendefinition nicht mehr aneinander vorbei reden und bauen – dann haben wir schon viel erreicht!
Die Sinus-Milieus versuchen mit Befragungen zum Lebensstil typische Verhaltensmuster zu erkennen. Doch gerade diese werden durch die fortschreitende Digitalisierung des Lebens immer wieder verändert und richten sich ständig neu aus. Wie kann das die Immobilienwirtschaft berücksichtigen?
Ja, die Gesellschaft verändert sich, damit entstehen zwar keine neuen Milieus, aber es ergeben sich Verschiebungen. So haben die Bevölkerungsanteile der drei Milieus Digitale Kosmopoliten, Performer und Postmaterielle zwischen den Erhebungen von 2016 und 2019 um je ein Prozentpunkt zugelegt.
Zu den psychographischen Segmentierungskriterien der Sinus-Milieus zählen Einstellungen, Werte und die Persönlichkeit. Auch diese Eigenschaften können sich verändern und weiterentwickeln. Lassen sich diese trotzdem kategorisieren?
Es gibt natürlich Überschneidungen. Diese lassen sich mit dem Milieus Analyzer spielerisch erkennen und analysieren. Das vom SVIT Schweiz und acasa Immobilien-Marketing entwickelte digitale Tool unterstützt das Arbeiten mit den Sinus-Milieus Wohn- und Lebenswelten Schweiz massgeblich und stellt mit dem gedruckten Werk ein abgestimmtes Ganzes dar. Sie Erkenntnisse aus den Sinus-Milieus Wohn- und Lebenswelten Schweiz werden übrigens auch in die höhere Berufsbildung in der Immobilienwirtschaft einfliessen und werden so zu einem Standard in der Projektentwicklung und -vermarktung.
Soziologen haben die Sinus-Milieus entwickelt und versuchen damit, die soziale Wirklichkeit zu erfassen. Was das dann für die Immobilienwirtschaft heisst, liegt aber nicht mehr in deren Kompetenz. Sind hier vor allem die Immobilienentwickler gefordert?
Das Sinus Institut in Heidelberg beschäftigt sich seit rund 40 Jahren mit den Milieus in unserer Gesellschaft. Die Sinus-Milieus werden in über 40 Ländern und in den verschiedensten Anwendungsfeldern eingesetzt – dies geht von Behörden bis zu Werbeagenturen und Unternehmen, die ihre Kunden besser verstehen wollen. Die Immobilienwirtschaft war bisher kein Kern-Anwendungsgebiet. Diese Lücke haben wir mit den Sinus-Milieus Wohn- und Lebenswelten geschlossen. Beteiligt an der Anwendung auf die Immobilienwirtschaft war eine Gruppe aus Immobilienfachleuten mit jahrelanger Erfahrung in der Entwicklung und Vermarktung.
Wie gross die Gefahr, dass gewisse Einflussgrössen übersehen werden? Bei Immobilienentwicklungen entsteht ja ein Produkt, welches fünfzig Jahre lang Bestand haben muss.
Eine Kristallkugel sind die Sinus-Milieus natürlich auch nicht. Aber mit ihnen bekommt man ein gutes Gefühl für die Entwicklung der Milieus in den kommenden Jahren und kann Szenarien entwickeln. Letztlich braucht es aber immer das Fachwissen und die Erfahrung des Entwicklers. Das können auch die Sinus-Milieus nicht ersetzen.
Interview: Remi Buchschacher